Universität Bielefeld
50 Jahre
Fakultät für Mathematik
Chronik

Mathematisierung der Einzelwissenschaften

Die „Mathematisierung der Einzelwissenschaften“ gehörte zu den Strukturmerkmalen der jungen Universität Bielefeld. Genaugenommen war dies sogar Teil des Gründungsauftrags im Sinne eines Beitrag zur Reform der deutschen Hochschule. Dieses Vorhaben wurde im Rahmen einer „Mathematisierungskommission“ verfolgt, welche in der Gründungsphase der neuen Universität Bielefeld gebildete wurde.

Die Ergebnisse wurden in einem 1976 im Birkhäuser Verlag erschienen Band der breiten Öffentlichkeit vorgestellt. Die einzelnen Beiträge decken die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen ab, welche an der Universität vertreten waren, einschließlich eines Beitrags zur Theologie. Bernhelm Booß und Klaus Krickeberg waren die Herausgeber, und das Vorwort zum Band wird hier dokumentiert. Der damalige Rektor Karl Peter Grotemeyer beleuchtet in seiner Einleitung den wissenschaftspolitischen Kontext und wird hier ebenfalls dokumentiert.

Vorwort

Stimmt es, daß die Wendung zum Methodischen, die die wissenschaftliche Theorie im historischen Verlauf ihrer Entwicklung und Differenzierung genommen hat, mit Notwendigkeit zu Mathematisierungstendenzen führt?

Wie sind Tragfähigkeit, Reichweite und Aussichten mathematischer Methoden in den Einzelwissenschaften zu beurteilen?

In welchem Verhältnis zueinander stehen mathematische und einzelwissenschaftliche Konzepte?

Antwort auf diese Fragen sucht eine in der Gründungsphase der neuen Universität Bielefeld gebildete "Mathematisierungskommission" im Hinblick auf eine raschere Übertragung neuer Methoden und Modellvorstellungen von einer Einzelwissenschaft auf eine andere, das Aufspüren neuer Entwicklungslinien der Mathematisierung und einen theoretischen Verlauf zur weiteren maschinellen Datenverarbeitung.

Bei den folgenden Beiträgen handelt es sich um die zum Teil nur leicht korrigierten Mitschriften von Vorträgen vor dieser Kommission und um ergänzende Stellungnahmen aus am Ort nicht vertretenden Disziplinen, die einen ersten Ansatz zu einer umfassenden Bestandsaufnahme und kritischen Diskussion des Gebrauchs mathematischer Methoden in den verschiedenen Wissenschaften liefern wollen. Im Mittelpunkt der sich in monatlicher Folge aneinanderschließenden Referate der Vertreter der einzelnen Wissenschaften standen Probleme der Kooperation zwischen ihrer Disziplin und der Mathematik, wobei sie häufig von einer populärwissenschaftlichen Darstellung ihres Fachs nach Art des alten "Studium Generale" ausgingen. Vor dem Hintergrund ihrer Einschätzung:welche stürmischen Entwicklungen hat es in den letzten zwanzig bis fünfzig Jahren gegeben - und wo herrscht eher Stagnation, zogen die Referenten ein Resümee bisheriger Berührungen ihrer Wissenschaft mit der Mathematik und erörterten Aussichten des weiteren Einsatzes mathematischer Methoden.

Der häufig subjektive Charakter der Einschätzungen blieb in der vorliegenden Buchausgabe erhalten, da diese persönlichen Erfahrungen und Meinungen oft mehr Aufschluß über den Stand und die Perspektiven der Entwicklung geben dürften als zu vorsichtig formulierte, abgesicherte Feststellungen.

Im Anhang finden sich - neben einem allerdings noch nicht systematisierten bloßen "Phonem"-Index zur Mathematisierung - Vorbereitungsdokumente der Sitzungen, Skizzen einiger konkreter Folgeprojekte und Literaturlisten zur weiteren Auswertung, Objektivierung und mathematisch-einzelwissenschaftlichen Vertiefung.

Wir hoffen, daß dieses Material nicht nur für die zukünftige Arbeit des Forschungsschwerpunktes "Mathematisierung der Einzelwissenschaften" der Universität Bielefeld als Orientierungsgrundlage von Nutzen sein wird, sondern auch andernorts als Ausgangspunkt einer weiteren Bestimmung und Präzisierung des Zusammenhangs zwischen einzelwissenschaftlichem Fortschritt und Mathematisierungstendenzen dienen kann.

Im Februar 1976,

Bernhelm Booß, Bielefeld
Klaus Krickeberg, Paris

Mit freundlicher Genehmigung des Birkhäuser Verlags aus:
B. Booß und K. Krickeberg (Hrsg.), Mathematisierung der Einzelwissenschaften, Birkhäuser Basel 1976, doi:10.1007/978-3-0348-5508-2

Aus den Grußworten des damaligen Rektors der Universität Bielefeld, Prof. Dr. Karl Peter Grotemeyer, zur Konstituierung der „Mathematisierungskommission“:

Einleitung

I.

Das Bekenntnis der jungen Universität Bielefeld und ihrer konstituierenden Gremien zur schwerpunktmäßigen Förderung der Mathematisierung der Einzelwissenschaften fängt an mit den "Strukturmerkmalen" der Universität von 1966, in denen es heißt: "Mit der Arbeit in den Schwerpunktgebieten will die Universität einen spezifischen Beitrag zur Reform der deutschen Hochschule erbringen". Es geht dann weiter: "Als mehrdisziplinäre Schwerpunkte sind vorgesehen ... Mathematisierung als Methode in anderen Fächern." Zu diesem Strukturmerkmal der Neugründungsuniversität hat die Landesregierung in ihrer 954. Kabinettsitzung ihre Zustimmung gegeben.

Im Aufbauplan II, einer Fortschreibung dieser Strukturmerkmale, heißt es entsprechend: "Einer der Universitätsschwerpunkte ist die Mathematisierung als Methode in den Wissenschaften, das heißt, die Erforschung der Anwendungsmöglichkeiten der Mathematik auf außermathematische Problemstellungen." Auch dieser Aufbauplan II ist vom Kabinett akzeptiert und als Planungsgrundlage dieser Universität beschlossen worden.

Dies Bekenntnis zum Schwerpunkt "Mathematisierung ist durchaus stets und ständig hier weitergeführt worden - und wurde in einer Reihe von Einzelwissenschaften zumindest teilweise auch verwirklicht, wovon noch die Rede sein wird. Auf Gesamtuniversitätsebene blieb es freilich zunächst bei dem Papier. Das hat seinen Grund in den unvermeidlichen räumlichen, bibliothekarischen, personellen und sonstigen Provisorien der Aufbausituation, die insbesondere einen systematischen Erfahrungsaustausch für diesen Schwerpunkt außerordentlich erschwerten und es im Grunde zunächst verhindert haben, daß dieser Schwerpunkt sich zielgerichtet und systematisch organisieren konnte. Eigentlich erst jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, nachdem alle Fächer an der Universität wenigstens in Keimzellen vorhanden sind, daß mit einem kooperativen Gespräch begonnen werden kann.

"Die Unterkommission soll in Zusammenarbeit mit den Fakultäten feststellen, wo in den Einzelwissenschaften gemeinsame Problembereiche liegen, die mit Hilfe der Mathematik - durch "Mathematisierung der Einzelwissenschaften" - zu lösen sind." So hat die Forschungskommission der Universität den Auftrag der Mathematisierungskommission für die erste Phase der Institutionalisierung dieses Schwerpunktes umrissen. Hieraus soll "bis Mitte 1975 ein Strukturplan hervorgehen, der die Entwicklung und Abgrenzung eines allgemeinen Konzepts für diesen Universitätsschwerpunkt auf zeigt". Soweit der Beschluß der Forschungskommission.

II.

Lassen Sie mich noch einen Aspekt zur praktischen Arbeit dieser Kommission anschließen: Bei der Mathematisierung handelt es sich nicht darum - und dieses ist die Meinung auch in der Forschungskommission - eine neue Wissenschaft aus der Taufe zu heben. Die Situation ist vielmehr durch umfangreiche und außerordentlich rasch sich entwickelnde praktische Forschungstätigkeit gekennzeichnet, wie auf der ganzen Welt so auch hier in Bielefeld.

Warum aber ist die Arbeit einer Mathematisierungskommission notwendig, und warum ist sie gerade im jetzigen Augenblick dringend? Bei der Beantwortung dieser Frage kann man durchaus Verständnis für das hausväterliche Verhalten unserer Fakultäten haben, die auch mit Blick auf die allgemeine Haushaltsenge ihre Mitarbeit zugesagt haben, um möglicherweise die Chance zn nutzen, über das Schlagwort "Mathematisierung" ihrem eigenen Budget das eine oder andere Handfeste an Stellen oder Mitteln hinzuzufügen.

Das wäre durchaus legitim. Im Mittelpunkt sollten aber die drängenden gemeinsamen Probleme stehen: Ich meine, daß gerade die Variabilität unserer Aufbausituation dieser Kommission eine große Chance eröffnet. Schon sind die meisten Einzelwissenschaften hier in Bielefeld so weit etabliert, daß sie ein eigenes wissenschaftliches Gewicht erlangt haben und die Kontinuität der Argumentation, den Bezug auf die praktische Forschungstätigkeit, auf die Erfahrungen, Interessen und Probleme der Einzelwissenschaften ermöglichen - noch ist der Aufbau aber nicht abgeschlossen, kein Fachbereich, keine Fakultät an dieser Universität ist komplett.

Zu einer planmäßigen Gestaltung des Bereichs "Mathematisierung" fehlen - und darin sehe ich Chance und strategisches Ziel dieser Kommission - Entscheidungsgrundlagen insbesondere

Die Möglichkeiten, die sich hier anbieten, bilden einen ziemlich breiten Fächer; worauf sich konzentrieren?

Was sind die entscheidenden inhaltlichen und organisatorischen Parameter für die Kooperation von Mathematik und Einzelwissenschaften?

Wie läßt sich die theoretische Relevanz der Mathematisierung der Einzelwissenschaften beurteilen?

Dies, glaube ich, sind die drängenden Fragen. Das Problem liegt hier eben nicht in der Initiierung einer neuen Wissenschaft oder in der Stimulierung von all dem, was zur Mathematisierung der Einzelwissenschaften getan werden kann. Die Kunst des Möglichen als für den forschenden Fachmathematiker oft naheliegendste Orientierung reicht heute nicht mehr als wissenschaftspolitisches Kriterium aus. Auch für die Mathematisierung scheint vielmehr das zu gelten, was aufmerksame Beobachter bereits allgemein zur Forschungsförderung bemerkten: "Die Menge der bereits wissenschaftsmethodisch erschlossenen Forschungsmöglichkeiten übersteigt schon jetzt das tatsächlich Erforschbare um das Vielfache; und sie nimmt mit dem Fortschreiten der Wissenschaft rapid weiter zu." (Kurt Rudzinski)

Ich sprach eben von der theoretischen Relevanz. Sicher ist "Relevanz" ein sehr schwieriger Begriff, der oft sehr kontrovers diskutiert wird. Ich meine aber, wir sollten uns hier einigen können auf den Begriff der "theoretischen Relevanz", auf die Frage nach Leistungsfähigkeit und Tragfähigkeit bei der Beschreibung und Erklärung der Verhältnisse im jeweiligen Untersuchungsbereich der Einzelwissenschaften. Sicher können wir uns jedenfalls nicht stützen auf Relevanzvorstellungen, wie sie etwa auch in unseren Strukturpapieren wiederzufinden sind, wenn z.B. der damalige Kultusminister Mikat Vorrang für diese oder jene Maßnahme forderte mit der doch etwas allgemeinen Begründung: "... wollen wir für die Aufgaben der nächsten Jahrzehnte gerüstet sein"; und auch der "Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit von Forschung und Wirtschaft", das von der gegenwärtigen Landesregierung für die Schwerpunktförderung genannte Kriterium, hält kaum einer wissenschaftlichen Überprüfung stand und kann wie alle derartigen fraglichen Kriterien uns nicht weiterführen. Ich glaube, daß Wissenschaft keinen Grund hat, die Disziplin ihrer Gesellschaftlichen Relevanz zu scheuen. Aber wenn sie dieses tut, sollte sie es nicht oberflächlich tun, sondern selbst wissenschaftlich diszipliniert ...

III.

Abschließend noch ein Wort zur Notwendigkeit der Kooperation. Die Universität Bielefeld hat ihre Grundeinheiten in Forschung, Lehre und Studium in den Einzelfächern. Diese Einzelfächer sind als eigene Fakultäten organisiert, erwachsen aus der Zerteilung der klassischen Philosophischen Fakultät und Staatswissenschaftlichen Fakultät. Damit sind lauter Bereiche geschaffen, die streng disziplinär arbeiten und so auch ausdrücklich von den Gründern der Universität Bielefeld akzeptiert sind. Zugleich wurde aber dem disziplinübergreifenden Spannungsfeld dadurch Rechnung getragen, daß hier ein "Zentrum für interdisziplinäre Forschung" konzipiert wurde, ferner ein "Zentrum für Wissenschaft und berufliche Praxis" und weitere übergreifende Sondereinrichtungen, die wie unsere Schulprojekte in der Planung oder Realisierung begriffen sind. In diesem Spannungsfeld - und darum sind sie seinerzeit gleich mit in die Gründungskonzeption aufgenommen worden - wirken auch die Universitätsschwerpunkte, und hier vor allem die "Mathematisierung".

Wenn sich also in der Kommission Vertreter der abstraktesten mathematischen Forschung mit Fachvertretern "angewandtester" Wissenschaften zusammenfinden, dann meine ich, daß man aus diesem Spannungsfeld das Positive, das hier hineingelegt worden ist, herausholen sollte: Die Möglichkeit, spekulative und durchaus "freischwebende" Denkansätze in die Zucht einer mathematisierten Methodologie zu nehmen und sie dadurch vergleichbar, kontrollierbar und kommunizierbar zu machen. Je formalisiertere Methoden wir uns verfügbar machen, desto freiere dürfen wir uns wählen. In der "Mathematisierung" sehe ich deshalb einen Weg, Wissenschaft in besonderer Verantwortung gegenüber wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Umwelt zu betreiben. Die Mathematisierungskommission möge dieses Spannungsverhältnis nicht vordergründig zuschütten, sondern als Stimulanz und Voraussetzung der weiteren Arbeit aufrechterhalten.

Mit freundlicher Genehmigung des Birkhäuser Verlags aus:
B. Booß und K. Krickeberg (Hrsg.), Mathematisierung der Einzelwissenschaften, Birkhäuser Basel 1976, doi:10.1007/978-3-0348-5508-2

Es gab allerdings auch Konflikte um die Mathematisierung. Der von 1971 bis 1974 an der Fakultät für Mathematik tätige Prof. Dr. Klaus Krickeberg schildert seine Erinnerungen daran wie folgt:

In der Korrespondenz über eine Dokumentation zum bevorstehenden Jubiläum der Universität Bielefeld ist mein Name aufgetaucht, und ich will daher die Dinge so darstellen, wie sie in meinem Gedächtnis aussehen. Dokumente darüber habe ich nicht.

Ich hatte in Heidelberg eine sehr gute Stelle. Die angewandte Mathematik war stark, hatte genügend Stellen auf allen Niveaus und ein eigenes Gebäude, das zugleich die Bibliothek für die gesamte Mathematik beherbergte. Auch die Beziehungen zwischen Reiner und Angewandter Mathematik waren gut, z. B. war das Mathematische Kolloquium beiden Teilen gemeinsam.

Dann fragte mich Friedrich Hirzebruch, ob ich nach Bielefeld kommen würde. Er präsentierte mir das Konzept einer Reformuniversität und der 'Mathematik in den Einzelwissenschaften', das mich sehr reizte (und es immer noch tut). Ich hielt es für selbstverständlich, dass dann auch die Mittel dafür bereit gestellt würden, und das war naiv; ich verließ mich auf mündliche Abmachungen.

Die 'reinen' Mathematiker, mit Ausnahme von Andreas Dress und Friedhelm Waldhausen, blockierten jeden Versuch einer Erweiterung der angewandten Mathematik über meinen Lehrstuhl hinaus. Zuerst müsse die Reine Mathematik in der üblichen Form völlig ausgebaut sein, bevor man an einen Ausbau der Angewandten denke könne, z. B. durch eine weitere Professur. Außerdem nahm ich ja auch an der mathematischen Grundausbildung teil. Es war klar, dass damit jede tiefere Arbeit an mathematischen Problemen einer Einzelwissenschaft auf lange Sicht unmöglich war.

Ich habe daher meine Entlassung beantragt, die vom Ministerium genehmigt wurde, und ein Angebot der Universität Paris Descartes, damals Paris 5 genannt, angenommen.

Meine lieben Kollegen der reinen Mathematik haben mich übrigens nie gefragt, warum ich weggehen wollte, und auch keinen Versuch gemacht, mich zu halten. Nur der AStA hat sich dafür interessiert, und ich habe es ihm in einer eigens anberaumten Veranstaltung erklärt. Ich hatte ja viele Diplomanden und Doktoranden gehabt, und die Studenten hatten meine Vorlesungen gut benotet.

In Paris habe ich dann zum großen Teil verwirklichen können, was ich neben anderem gern in Bielefeld getan hätte, nämlich Mathematik in der Einzelwissenschaft 'Öffentliches Gesundheitswesen' (Public Health). Das Buch über das allgemeine Thema 'Mathematik in den Einzelwissenschaften', das in Bielefeld erschien, war vor allem das Werk von Bernhelm Booß.

Seit über 20 Jahren arbeite ich wieder in Bielefeld, nämlich ehrenamtlich an der sogenannten 'Fakultät für Gesundheitswissenschaften' (eine falsche Bezeichnung; kurioserweise heißt es in englischsprachigen Texten richtig 'Faculty of Public Health'). Auch jetzt noch gibt es viele Kämpfe, aber sie sind nicht so hoffnungslos wie im Jahre 1974.

K. Krickeberg