Universität Bielefeld
50 Jahre
Fakultät für Mathematik
Chronik

„Sieben Jahre Mathematik“

(Quelle: Bielefelder Universitätszeitung)

Am 6.10.1995 und in den folgenden Tagen erschienen deutschlandweit Zeitungsartikel mit Überschriften wie „Sieben Jahre Mathematik in der Schule sind genug“ (Die Welt, 6.10.), „Am praktischen Leben vorbei“ (Westfalen-Blatt, 6.10.), „Mathematik löst keine Probleme“ (Neue Westfälische, 6.10.) oder „Mythos Mathe“ (Frankfurter Rundschau, 12.10.). Ein Bielefelder Mathematiker habe in seiner Habilitationsarbeit über den Beitrag der Mathematik zur Allgemeinbildung festgestellt, dass in den ersten sieben Schuljahren alles gelernt werde, das Erwachsene an Mathematik bräuchten. Der Mathematikunterricht müsse sich von der Ideologie verabschieden, dass die übliche Schulmathematik allgemeinbildend sei.

Der Dekan der Fakultät für Mathematik, Prof. Dr. Claus Michael Ringel, verfasste daraufhin eine Stellungnahme zum Thema, die unter anderem an mathematische Institute und Fakultäten versandt und z.B. in Ausgabe Nr. 61 (1995) der Mitteilungen der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik veröffentlicht wurde:

Sind sieben Jahre Mathematik genug?

Anmerkungen zur Habilitationsschrift “Allgemeinbildung und Mathematik” von H. W. Heymann

1. Tageszeitungen in der gesamten Bundesrepublik haben in den vergangenen Tagen über die “Ergebnisse einer Habilitationsarbeit des Bielefelder Mathematikers Hans Werner Heymann” (so die Ruhrnachrichten und die Kieler Nachrichten am 6.10., die Sächsische Zeitung am 10.10.), über den “Mathematik-Professor Heymann” aus Bielefeld (SZ, 8.10.) berichtet: Seine Thesen, wie sie in der Presse vorgestellt werden: “Sieben Jahre Mathematik sind genug. Was Erwachsene an Mathematik brauchen, lernen sie in den ersten sieben Schuljahren. Alles, was den Schülern darüber hinaus vermittelt wird, spielt im späteren Leben praktisch keine Rolle”.

Viele Anfragen von irritierten Mathematikern und Lehrern aus der ganzen Bundesrepublik haben die Fakultät für Mathematik erreicht. Sie sieht sich daher veranlaßt zu betonen, daß es sich um keine Habilitation an der Fakultät für Mathematik, sondern um eine Habilitation an der Fakultät für Pädagogik handelt. An dem im Sommer dieses Jahres abgeschlossenen Verfahren war die Fakultät für Mathematik zu keiner Zeit beteiligt, sie war nicht einmal (weder offiziell noch inoffiziell) informiert. Der Verfasser dieser Habilitationsschrift ist Doktor der Sozialwissenschaften (Dr. disc. pol.) und arbeitet als Akademischer Oberrat am (von der Fakultät für Mathematik unabhängigen) Institut für Didaktik der Mathematik (IDM) der Universität Bielefeld.

Natürlich ist selbstverständlich, daß eine Diskussion über Inhalte und Methoden des Mathematikunterrichts an allgemeinbildenden Schulen nicht nur Mathematiker angeht, sondern daß sich an ihr Wissenschaftler aller Fachrichtungen beteiligen müssen; gerade die Nicht-Mathematiker haben zu beurteilen, welche mathematischen Kenntnisse und Fähigkeiten nach dem Schulabschluß zu erwarten sein sollen. Wenn hier festgehalten wird, daß Herr Heymann kein Bielefelder “Mathematik-Professor”, ja nicht einmal ein promovierter Mathematiker, ist und daß an seinem Habilitationsverfahren die Fakultät für Mathematik nicht beteiligt war, so dient dies nur zur Klarstellung: die vorgelegten Thesen hat unsere Fakultät nicht zu verantworten; im Gegenteil, sie stoßen innerhalb der Fakultät auf entschiedene Kritik.

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[Die vollständige Stellungnahme findet sich in der pdf-Datei Ringel - Heymann.pdf.]

Claus Michael Ringel, Sind sieben Jahre Mathematik genug?,
unter der Creative Commons Lizenz CC BY-SA 4.0 aus: Mitteilungen der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik, Nr. 61 (1995).

Der Autor der Habilitationsschrift, Privatdozent Dr. Hans Werner Heymann, reagierte auf diese Stellungnahme mit einem offenen Brief, der ebenfalls in Ausgabe Nr. 61 (1995) der Mitteilungen der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik veröffentlicht wurde:

Stellungnahme

zu den Hauptsachen in den Anmerkungen des Dekans der Fakultät für Mathematik der Universität Bielefeld, Herrn Prof. Dr. C. M. Ringel, zu meiner pädagogischen Habilitationsschrift "Allgemeinbildung und Mathematik" in Gestalt eines offenen Briefes

Lieber Herr Ringel,

lassen Sie mich mit dem beginnen, was ich erfreulich finde. Durch eine in weiten Teilen der deutschsprachigen Tagespresse arg entstellende Berichterstattung über vermeintliche "Ergebnisse" meiner Habilitationsschrift ist eine öffentliche Diskussion über den Mathematikunterricht in Gang gekommen, die längst überfällig war. Daß sich an dieser Diskussion nun auch viele Hochschulmathematiker wie Sie engagiert beteiligen, ist höchst begrüßenswert. Immerhin liegt die akademische Ausbildung der zukünftigen Mathematiklehrer für den Sekundarbereich im wesentlichen in den Händen von Hochschulmathematikern. Durch eine breite Diskussion aller Betroffenen, an der Sie und Ihre Fachkollegen beteiligt sind, könnte der Boden für weitreichende Reformen bereitet werden.

Lassen Sie mich sagen, was ich verständlich finde. Die Fakultät für Mathematik der Universität Bielefeld wurde aus ganz Deutschland nicht nur mit irritierten Anfragen, sondern auch mit unberechtigten Vorwürfen überschüttet - unberechtigt deshalb, weil sie in der Tat mit meinem Habilitationsverfahren nichts zu tun hatte und ich auch kein Fakultätsmitglied bin. Daß sich in dieser Situation heftiger Unmut gegen meine Person und meine Arbeit richtete (ich hoffe: nicht gegen die Institution, an der ich arbeite), weil der Eindruck entstand, ich würde dem Fach Mathematik Schaden zufügen, kann ich gut nachvollziehen.

Lassen Sie mich aber auch aussprechen, was ich enttäuschend finde. Als ich Ihnen in Ihrer Funktion als Dekan der Fakultät vor drei Wochen meine Habilitationsschrift zur Information für alle Fakultätsmitglieder zur Verfügung stellte - nach einem Gespräch, das mir vom beiderseitigen Willen zur sachlichen Klärung getragen schien -, hoffte ich, Sie würden diese Chance nutzen zur Aufklärung über das, was wirklich in meiner Arbeit zu lesen ist. Stattdessen haben Sie sich in Ihren Anmerkungen den einseitigen Verzerrungen der Presseberichte angeschlossen, wobei Sie nun - im Unterschied zu den Journalisten - mit dem Gewicht wissenschaftlicher Autorität auftreten.

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[Der vollständige offene Brief findet sich in der pdf-Datei Heymann - Ringel.pdf.]

Hans Werner Heymann, Stellungnahme zu den Hauptsachen in den Anmerkungen des Dekans der Fakultät für Mathematik,
unter der Creative Commons Lizenz CC BY-SA 4.0 aus: Mitteilungen der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik, Nr. 61 (1995).

Die genannte Ausgabe Nr. 61 (1995) der Mitteilungen der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik enthält weitere Artikel und Stellungnahmen zum Thema.

Auch die Bielefelder Universitätszeitung griff the Kontroverse in Ausgabe Nr. 181/1995 auf und gab allen Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme:

Wieviel Mathematik gehört zur Allgemeinbildung? Eine Kontroverse

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Die "Bielefelder Universitätszeitung" möchte zur Versachlichung der Diskussion beitragen und zugleich ein Forum bieten, in dem die Debatte innerhalb der Universität Bielefeld geführt werden kann. Wir haben Hans Werner Heymann gebeten, die wesentlichen Thesen seiner Habilitationsschrift kurz zusammenzufassen. Danach wird der ehemalige Dekan der Fakultät für Mathematik, Prof. Dr. Claus Michael Ringel, die Position der Fakultät für Mathematik kurz darlegen; außerdem wird Prof. Dr. Klaus Tillmann, einer der Gutachter der Arbeit, aus pädagogischer Sicht Stellung nehmen.

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[Der vollständige Artikel mit den Stellungnahmen findet sich in der pdf-Datei BUZ 181 Heymann.pdf.]

Bielefelder Universitätszeitung Nr. 181/1995, Wieviel Mathematik gehört zur Allgemeinbildung? Eine Kontroverse

Im zitierten Artikel wurde auch um Leserbriefe zum Thema gebeten, und in der folgenden Ausgabe Nr. 182/1996 der BUZ wurden dann Zuschriften von

abgedruckt:

Wieviel Mathematik gehört zur Allgemeinbildung?

Die "Bielefelder Universitätszeitung" hatte gebeten, zu den veröffentlichten Thesen von Dr. Hans Werner Heymann und Texten von Prof. Dr. Claus Michael Ringel und Prof. Dr. Klaus-Jürgen Tillmann, die auch wenig später am 28. Dezember auf der Dokumentationsseite der Frankfurter Rundschau erschienen waren, Stellung zu nehmen. Hier nun die Resonanz, die aus mehreren Fakultäten und Einrichtungen der Universität Bielefeld und nicht nur von Mathematikern kam.

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[Der vollständige Artikel mit den Leserbriefen findet sich in der pdf-Datei BUZ 182 Heymann.pdf.]

Bielefelder Universitätszeitung Nr. 182/1996, Wieviel Mathematik gehört zur Allgemeinbildung?