Universität Bielefeld
50 Jahre
Fakultät für Mathematik
Chronik

Medienprojekt „Mathematisches Vorsemester“

Foto: Hans Dieter Johner
Quelle: Neue Westfälische

Das „Mathematische Vorsemester“ war ein umfassendes Medienprojekt, welches in den 1970er Jahren von der Fakultät für Mathematik betreut und vorangetrieben wurde. Die Zielsetzungen des Projekts waren, den Übergang von der Schule zur Hochschule im Fach Mathematik systematisch zu analysieren und durch praktische Angebote den Studieninteressierten zu helfen, die Schwierigkeiten zu überwinden. Eine wichtige Rolle spielten dabei Fernsehproduktionen, welche vom Westdeutschen Rundfunk im Rahmen eines Fernstudienangebots ausgestrahlt wurden. Das Lehrmaterial wurde auch als Buch im Springer Verlag in mehren Auflagen veröffentlicht. Dieses Buch wurde von Günther Richter herausgegeben, der im Vorwort des Bandes von 1975 ein Resümee der bisherigen Entwicklung zieht:

Vorwort

Als das Mathematische Vorsemester im Herbst 1970 erstmals vom Westdeutschen Rundfunk, dem Kultusministerium des Landes Nordrhein–Westfalen und der Universität Bielefeld veranstaltet wurde, war es auch ein Großexperiment für das geplante Fernstudium im Medienverbund. Experimentiert wurde einerseits mit völlig neuartigen Vermittlungsformen für das Fach Mathematik durch Einbeziehung der Medien Fernsehen, Texte und Tutorials, andererseits sollte auch die Kooperation zwischen Rundfunkanstalten, Ministerien und Hochschulen modellhaft erprobt werden.

Damals hofften alle Beteiligten, durch die gemeinsame Entwicklung des Fernstudiums im Medienverbund eine Öffnung der Hochschulen für breitere Bevölkerungsschichten zu erreichen und – unter Ausnutzung der durch den Medienverbund gegebenen didaktischen Möglichkeiten – eine grundlegende Reform auch der Studieninhalte einzuleiten. Heute, nach einem halben Jahrzehnt, scheint es an der Zeit, Bilanz zu ziehen:

Von Kooperation kann kaum noch die Rede sein. Beim Ringen um Einfluß im tertiären Bildungssektor haben sich die Partner von einst in schwer auflösbare Gegenpositionen manövriert. Den Rundfunkanstalten sind durch die Rechtsaufsicht des Staates die Hände gebunden, den Hochschulen fehlt es an den notwendigen Mitteln und an Personal, aber auch an Einigkeit untereinander. Die staatliche Seite schließlich ist von sich aus initiativ geworden. Das Land Nordrhein–Westfalen hat eine Fernuniversität errichtet, deren Gründungskonzept aber weder eine Öffnung der Hochschulen, noch einen Beitrag zur Studienreform vorsieht [1)]. Daneben gibt es ein von allen Bundesländern geschlossenes Verwaltungsabkommen mit dem Ziel, in einigen ausgewählten Fächern die Entwicklung von Fernstudienmaterialien voranzutreiben. Beide Initiativen erfolgten ohne eine institutionelle Beteiligung der Rundfunkanstalten und Hochschulen.

Diese politische Entwicklung hat glücklicherweise nicht verhindert, daß das Mathematische Vorsemester bis heute ca. 15.000 Studienanfängern, Abiturienten und sonstigen Interessenten in Nordrhein–Westfalen Start- und Entscheidungshilfen für bzw. Informationen über ein Studium der Mathematik (Haupt- oder Nebenfach) an Hochschulen gegeben hat. Daß dies im Interesse der Betroffenen weiterhin möglich sein wird, ist vor allem dem Kultusministerium des Landes Nordrhein–Westfalen, der Universität Bielefeld, die hierfür die materiellen Voraussetzungen geschaffen haben, und dem Springer-Verlag zu verdanken.

Dagegen ist ein Versuch zur grundlegenden Revision und Ausweitung des Mathematischen Vorsemesters auf Bundesebene in den Anfängen stecken geblieben. Das ist mit ein Grund dafür, daß die in jahrelangem Einsatz gewonnenen Erfahrungen, Anregungen und Untersuchungsergebnisse erst jetzt in dem nun vorliegenden Text verarbeitet werden konnten. Die sich aus der inzwischen veränderten Situation an den Oberstufen der Gymnasien ergebenden Konsequenzen wurden dabei ebenfalls berücksichtigt.

Vorliegende Erfahrungen und Untersuchungsergebnisse über den Einsatz des Mediums "Fernsehen" können in Zusammenarbeit mit dem WDR solange nicht in eine Neuproduktion der Fernsehanteile des Mathematischen Vorsemesters eingebracht werden, wie die oben geschilderte politische Situation anhält. Immerhin sind diese Erfahrungen und Ergebnisse in der Zwischenzeit in weiteren Projekten auch für ein Direktstudium im Medienverbund nutzbar gemacht und erweitert worden. Für Hilfe und Unterstützung bei der Erstellung des vorliegenden Manuskriptes bin ich Mitgliedern der ehemaligen Projektgruppe Fernstudium der Fakultät für Mathematik an der Universität Bielefeld, insbesondere Frau Claudia Rohde, zu Dank verpflichtet. Mein besonderer Dank gilt außerdem den Damen Ingeborg Büchner und Almut Weiß, die in oft mühevoller Arbeit die Reinschrift besorgten.

---

1) Durch die Arbeit des Gründungsausschusses ist in der Zwischenzeit jedoch sichergestellt, daß zur Sammlung von Erfahrungen 2O% der Kapazität der Fernuniversität für Kursstudenten ohne Hochschulzugangsberechtigung reserviert werden sollen. Außerdem sollen gemäß dem Gesamthochschulkonzept berufsfeldorientierte und integrierte Studiengänge sowie Kontaktstudiengänge entwickelt werden. Ein Schwerpunkt wird neben der Fernstudiendidaktik im Bereich der wissenschaftlichen Weiterbildung liegen.

Mit freundlicher Genehmigung des Springer Verlags aus:
Günther Richter (Hrsg.), Mathematisches Vorsemester, Birkhäuser Berlin Heidelberg 1975, doi:10.1007/978-3-662-08572-1

Die ebenfalls von Günther Richter verfasste Einleitung des Buchs hingegen befasst sich detailliert mit der Zielsetzung und den Methoden des „Mathematischen Vorsemesters“:

Einleitung

Ziel des Mathematischen Vorsemesters ist die Überwindung der Übergangsschwierigkeiten von der Schule zur Hochschule im (Haupt-oder Neben-)Fach Mathematik. Um dies zu erreichen, muß man zunächst die Ursachen für solche Schwierigkeiten aufdecken und analysieren:

Die naheliegendste Vermutung ist wohl, daß man in der Schule zu wenig lernt und die Hochschule zu viel Vorwissen verlangt. Gegen diese These spricht zunächst, daß die Schwierigkeiten von Studienanfängern erfahrungsgemäß ziemlich unabhängig von Art, Inhalt und Umfang des jeweils absolvierten Schulunterrichts im Fach Mathematik sind.

Vor allem aber spricht dagegen, daß Lehrveranstaltungen für Erstsemester in der Regel nicht an irgendeinen Schulstoff anknüpfen, um ihn weiterzuentwickeln und zu vertiefen. Vielmehr werden alle benötigten Hilfsmittel innerhalb dieser Veranstaltungen entwickelt bzw. bereitgestellt. Eine traditionelle Anfängervorlesung über Analysis oder Infinitesimalrechnung beginnt zum Beispiel mit der Festlegung einiger Grundregeln über den Umgang mit reellen Zahlen, ohne auf Schulwissen zurückzugreifen. Alles weitere wird darauf aufgebaut. Erst in jüngster Zeit hat es sich eingebürgert, eine gewisse Vertrautheit mit den Grundbegriffen der Mengenlehre stillschweigend vorauszusetzen.

Obwohl Schulkenntnisse die Aneignung von Studieninhalten erleichtern können, muß doch festgestellt werden, daß mangelndes Faktenwissen nicht zu den Hauptursachen der Anfängerschwierigkeiten gehört.

Liegt es dann vielleicht an der Art und Weise, wie Mathematik an der Schule und an der Hochschule betrieben wird? Ist Schulmathematik weniger modern? Die um sich greifenden Versuche, den Mathematikunterricht zu modernisieren, d.h. meistens, ihn mit Mengenlehre und Aussagenlogik "anzureichern", mögen darauf hindeuten. Man spricht nicht mehr von "Folgerungen", sondern von "Implikationen". Und statt Gleichungen oder Gleichungssysteme zu "lösen", bestimmt man eben ihre "Lösungsmengen". Oft hat die alte Schulmathematik nur ein neues Mäntelchen bekommen. In den Klassen redet man jetzt so ähnlich wie in den Hörsälen und Seminarräumen. Und manchmal finden auch bisher der Hochschulsphäre vorbehaltene Theorien Eingang in die Lehrpläne (Boolesche Algebren, Gruppentheorie etc.).

Werden diese Modernisierungsversuche die Anfängerschwierigkeiten beheben? Hat es wirklich nur daran gelegen, daß sich Schule und Hochschule unterschiedlich ausdrückten, oder mit anderen Gegenständen beschäftigten? Solche Barrieren erscheinen doch eigentlich überwindbar. Jedenfalls können sie allein die in den vergangenen Jahren oft erschreckend hohen Studienabbrecherquoten nicht verursacht haben. Aber es ist auch nicht die Aufgabe der Schule, den wenigen zukünftigen Mathematikern den Studienbeginn zu erleichtern, denn ihre Ausbildung hat ganz andere Zielsetzungen als die der Hochschule. Daraus resu1tieren gravierende prinzipielle Unterschiede in der Vorgehensweise. Die Schule konzentriert sich in erster Linie darauf, vorhandene mathematische Theorien oder Problemlösungen vorzustellen und einzuüben. So wird beispielsweise die allgemeine Lösung einer quadratischen Gleichung vom Lehrer oder im Schulbuch hergeleitet. Die Hauptarbeit der Schüler besteht jedoch darin, dieses Lösungsrezept in mehr oder minder eingekleideten Aufgaben anzuwenden. Ebenso werden gewisse Differentiationsregeln (Produktregel, Quotientenregel, Kettenregel) einmal bewiesen, um dann möglichst häufig angewendet zu werden. Ähnliches gilt für Integrationstechniken, Kurvendiskussionen oder auch in mehr elementaren Bereichen, wie der Zinseszinsrechnung und der Anwendung von Kongruenz-, Sinus- oder Kosinussätzen usw. …

Demgegenüber ist ein Hauptziel des Mathematikstudiums die Fähigkeit, immer wieder neue, möglichst allgemeine Problemlösungen herzuleiten. Ihre Anwendung auf konkrete, inner- oder außermathematische Sachverhalte wird weitgehend vernachlässigt. Schon von Anfang an muß der Student Beweise nicht nur nachvollziehen oder reproduzieren können, sondern, ausgehend von gewissen Grundannahmen, Axiomen, oder schon bewiesenen Sätzen, mit Hilfe streng kodifizierter Beweisverfahren selbständig führen.

Dabei kommt es gerade im ersten Semester nicht selten vor, daß er Sachverhalte beweisen soll, die ihm nach 13-jähriger Schulpraxis schon in Fleisch und Blut übergegangen sind (z.B. 3*4 = 4*3!). Plausible Gründe für derartige Wiederholungen werden nur selten angegeben.

Meistens bleibt es den Studenten selbst überlassen, solche Diskrepanzen in der Vorgehensweise von Schule und Hochschule zu erkennen und zu überwinden. Kaum ein Hochschullehrer ist in der Lage, dabei in geeigneter Weise zu helfen. Manche Hochschullehrer beschränken sich darauf, möglichst viele elegante Beweise möglichst schnell und reibungslos vorzutragen, in der Hoffnung, daß die "begabten" Studenten dies eines Tages nachahmen können.

Wesentlich hilfreicher mögen da schon die sogenannten Übungs- oder Tutorengruppen (Tutorials) sein, in denen man zusammen mit einem älteren Studenten individuelle Probleme in einem kleineren Kreis besprechen kann. Aber kann man dies wirklich? Ist ein Studienanfänger ohne weiteres in der Lage, seine Verständnisschwierigkeiten in einer Gruppe von zunächst völlig Fremden zu artikulieren? Ist nicht die Angst, sich zu blamieren, größer als das Bedürfnis nach Hilfe? Wird der Übungsgruppenleiter oder Tutor, der zumeist noch Einfluß auf die Vergabe eines Übungsscheines hat, und insofern die Rolle des Lehrers übernimmt, nicht einen schlechten Eindruck bekommen?

Jedenfalls ist es nicht erstaunlich, wenn ein Studienanfänger aufgrund von Schulerfahrungen so reagiert. Schließlich ging es in der Schule in erster Linie darum, Leistungen zu erbringen und im Kampf um Zehntelpunkte für einen numerus-dausus-überwindenden Notendurchschnitt Erfolge einzuheimsen. Über Mißerfolge und Schwierigkeiten hat man besser nicht geredet. Notfalls wurde abgeschrieben.

Um es kurz zu sagen:
Die Schule hat ihre Absolventen weder arbeitsmethodisch noch gruppendynamisch auf ein Studium vorbereitet.

Damit ist der Katalog der möglichen Ursachen für Anfängerschwierigkeiten aber noch keineswegs vollständig. Bisher haben wir nur nach objektiven Diskrepanzen zwischen den beteiligten Institutionen Schule und Hochschule gefahndet. Die "subjektiven" Motive und Erwartungen der Studenten wurden noch nicht berücksichtigt.

Sehen wir einmal von der verständlichen Erwartung einer "Fortsetzung der Schulmathematik mit anderen Mitteln" ab, die wir ja schon in verschiedenen Punkten problematisiert haben, dann verbindet doch jeder mit der Wahl seines Studienfachs ein Berufsziel und will für seine zukünftige Berufspraxis ausgebildet werden. Niemand wird besonders motiviert sein, Studieninhalte zu akzeptieren bzw. sich anzueignen, die in keinem erkennbaren Zusammenhang mit dem "subjektive" Ausbildungsziel stehen.

Nun ist aber das traditionelle Mathematikstudium ganz auf den Forschungsbetrieb der reinen Mathematik ausgerichtet. Dies ist eine Folge der historischen Entwicklung der Mathematik, die obwohl durch sehr praktische, auf die Umwelt bezogene Fragestellungen beeinflußt, sich verselbständigt und ihr Eigeninteresse entdeckt und verfolgt hat. Diese Loslösung von der Realität ermöglicht es der Mathematik, die Sonderrolle zu spielen, die sich etwa in den Prädikaten "einzig exakte, objektive Wissenschaft" niederschlägt. Die ursprünglichen aus realen Problemen erwachsenen Motive wurden außerdem durch ästhetisierende ersetzt (schöpferische Tätigkeit, Schönheit des Gebäudes, tiefliegende Symmetrien u.ä.).

Deshalb werden an den Universitäten auch nicht in erster Linie Industriemathematiker und Lehrer ausgebildet. Den Vorrang hat vielmehr der eigene wissenschaftliche Nachwuchs. Industriemathematiker und Lehrer sind eher "Abfallprodukte" solcher Studiengänge:
"Wem beim wissenschaftlichen Streben nach reiner Wahrheit in der dünnen Luft der Abstraktion der Abstraktionen der Atem ausgeht, wird zurück in die rauhe Welt der Praxis versetzt. Für diese Praxis aber ist er nun keineswegs gerüstet" [21].

Die Widersprüche zwischen den Interessen der Lehrenden und Lernenden manifestieren sich bereits zu Beginn des Studiums. Da die Lernenden kaum in der Lage sind, ihre Vorstellungen zu präzisieren, geschweige denn durchzusetzen, kommt es notwendigerweise zu einer Anpassung an die Normen der Lehrenden. Der Anspruch von Wissenschaft als Mittel zur Emanzipation des Menschen gerät in Gefahr, in das Gegenteil verkehrt zu werden. Wer diesen Anpassungsprozess nicht mitmachen will, kann sich mit denjenigen solidarisieren, die das Studium mit dem Ziel der Ausbildung für die Berufspraxis reformieren wollen oder aber resignieren und damit das Heer der "unbegabten" Studienabbrecher vergrößern.

Diese Tendenz wird noch durch psychische Probleme verstärkt, die in der Regel als Folge der Loslösung von Elternhaus, Freundeskreis und Schule in einer neuen ungewohnten sozialen Umwelt auftreten. Der Studienanfänger sieht sich oft in einer weitgehenden Vereinsamung, die ihm Vergleichsmöglichkeiten, Selbsteinschätzung und Halt verwehrt.

Eine Ursache dafür ist auch der im gesamten Mathematikbetrieb übliche Brauch, den Partner über seine eigenen Schwierigkeiten und Irrwege hinwegzutäuschen und mit einer ausgefeilten Darstellung zu beeindrucken. Jeder sieht um sich lauter "Könner", gemessen an denen die eigenen Leistungen sehr bescheiden wirken.

Die vorangegangenen Überlegungen sollten deutlich machen, daß es dem Mathematischen Vorsemester nicht in erster Linie darum gehen kann, evtl. vorhandene Lücken im Schulstoff zu schließen. Den genannten Schwierigkeiten kann man auch nicht durch eine einfache Vorwegnahme von Teilen des ersten Semesters eines Mathematikstudiums begegnen. Dies hätte nur eine Verlagerung der Anfängerproblematik in das Mathematische Vorsemester zur Folge und würde denjenigen zu einem Alibi verhelfen, die in der Hochschule alles beim alten lassen wollen.

Wenn das Mathematische Vorsemester eine Zementierung bestehender Mißstände verhindern will, darf es seinen Teilnehmern eben nicht nur zu erfolgreicher Anpassung verhelfen. Es muß sie vielmehr in die Lage versetzen, die in allen Hochschulgruppen vorhandenen fortschrittlichen bzw. reformerischen Tendenzen zu erkennen und zu unterstützen. Das Mathematische Vorsemester muß deshalb versuchen, inhaltlich und mediendidaktisch fortschrittliche Alternativen zu traditionellem Hochschulunterricht aufzuzeigen.

Inhalte

Die Vorgehensweise der Hochschulmathematik kann man nur anhand mathematischer Inhalte kennenlernen. Um außerdem den Zusammenhang zwischen der Wissenschaft Mathematik und ihren Anwendungen, insbesondere im Hinblick auf die spätere Berufspraxis analysieren zu können, muß man zumindest das Vokabular dieser Wissenschaft verstehen. Deshalb beginnt dieser Kurs mit einer kurzen Einführung in die elementaren Begriffe der Fachsprache . Es geht um Aussagen, Mengen, Relationen und Abbildungen.

Viele Teilnehmer haben die "Mengenlehre" schon in der Schule kennengelernt. Selbst wenn alle dasselbe intuitive Vorverständnis vom Mengenbegriff mitbringen sollten, werden sie sich doch an unterschiedliche Bezeichnungen und Schreibweisen gewöhnt haben, die vereinheitlicht werden müssen. Im ersten Teil des Kurses soll eine gemeinsame Kommunikationsbasis hergestellt werden. Dabei geht es in erster Linie um das Verständnis und die Handhabung der grundlegenden Begriffe. Mengenlehre wird nicht als eigenständige Theorie behandelt.

Im zweiten Teil wird der Weg von einem konkreten Problem zu einer mathematischen Fragestellung und zu einer Lösung mit mathematischen Methoden exemplarisch beschritten. Dabei steht die Problemlösung selbst nicht im Vordergrund. Wichtig ist die Art und Weise, wie hier Mathematik eingesetzt wird und welche typischen Einzelschritte dabei durchlaufen werden.

Es geht darum, mathematische Arbeit als Entwicklung und Bereitstellung von theoretischen Modellen zu verstehen, die es erlauben, die "Wirklichkeit" zum Zwecke ihrer Beherrschung und Veränderung in den Griff zu bekommen. Dieser Aspekt mathematischer Tätigkeit, der für die Berufspraxis des Industriemathematikers von zentraler Bedeutung ist, wird im traditionellen Studium kaum berücksichtigt. Stattdessen wird Mathematik als ein von der "Wirklichkeit" losgelöstes Gebäude präsentiert, dessen Entwicklung scheinbar nur der ihm innewohnenden Eigendynamik folgt.

Eine relativ einfache Problemstellung dient als Beispiel. Wie kann man Schaltungen für elektrische Geräte finden, die bestimmte Zwecke erfüllen sollen? Eine Lichtquelle soll sich etwa an zwei verschiedenen Stellen ein- und ausschalten lassen, natürlich an jedem Schalter unabhängig von der Stellung des anderen. Eine solche "Wechselschaltung" ist in jedem Haushalt zu finden. Mit ein wenig Nachdenken kann jeder Laie eine geeignete Schaltung entwerfen. Schwieriger wird diese Aufgabe, wenn viele Schaltstellen - etwa im Treppenaufgang eines Hochhauses - verlangt werden oder wenn eine Schaltung dieser Art ganz andere Aufgaben erfüllen soll.

Im Prinzip kann man sich jedes Mal einen Karsten vorstellen, auf dem Hebel montiert sind, die genau zwei Lagen einnehmen können und an dem außerdem eine Lampe angebracht ist, die bei einigen Einstellungskombinationen der Hebel brennen soll und bei anderen nicht.

Unter Vorgabe einer bestimmten Wirkungsweise gilt es, ein Schaltbild, also eine Konstruktionsvorschrift für einen derartigen Kasten zu finden.

Bei der mathematischen Beschreibung dieses Problems werden wir die vorher entwickelte Mengensprache einsetzen. Bei der Lösung wird uns die Theorie der Booleschen Algebren helfen. Wir werden sehen, daß sich diese Theorie auch in anderen Bereichen einsetzen läßt, z.B. in der Wahrscheinlichkeitsrechnung, bei zahlentheoretischen Fragestellungen und in der Logik. Hier kann sie etwa zur Präzisierung und Systematisierung der unterschiedlichsten Beweismethoden verwendet werden.

Solche vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten rechtfertigen ein genaueres von Anwendungen losgelöstes Studium der Theorie selbst, weil man hoffen kann, die dadurch erzielten allgemeinen Erkenntnisse nutzbringend einsetzen zu können. Dies geschieht mit Hilfe der axiomatischen Methode. Die Hochschulmathematik beschränkt sich heute fast ausschließlich auf solche abstrakten Untersuchungen, meistens sogar, ohne die Frage nach möglichen Anwendungen zu stellen.

Im dritten und letzten Teil des Kurses befassen wir uns mit einem uralten mathematischen Modell, mit den Zahlen.

Die natürlichen Zahlen 0, 1, 2, ... sind eng mit einem nützlichen Beweisprinzip, der vollständigen Induktion, verbunden. Mit Hilfe dieses Prinzips können alle aus der Schule bekannten Regeln über den Umgang mit natürlichen zahlen hergeleitet werden. Wir werden es darüber hinaus noch auf einige kombinatorische Probleme anwenden.

Die natürlichen Zahlen sind mit einigen Mängeln behaftet. Bestimmte Rechenoperationen, wie z.B. Subtraktion und Division lassen sich mit ihnen nur sehr beschränkt ausführen. Deshalb ist es nützlich, andere Zahlen zu konstruieren, die diese Mängel nicht aufweisen. Wir kommen so zu den ganzen und den rationalen zahlen.

Der weitere Weg wird nur angedeutet. Auch die rationalen Zahlen weisen Mängel auf (so gibt es z.B. keine rationale Zahl x mit x2 = 2, d.h. man kann die Quadratwurzel nicht immer ziehen). Sie können durch reelle Zahlen ersetzt werden usw.

Mediendidaktische Konzeption

Die meisten Ursachen für Schwierigkeiten der Studienanfänger im Fach Mathematik lassen sich durch die Lektüre dieses Textes allein nicht überwinden. Das kann erst im Verbund mit weiteren Medien, wie Tutorials, Vorträge und Fernsehen, erreicht werden, die verschiedene Funktionen übernehmen:

Texte: Sie umfassen den gesamten Inhalt des Kurses. Die relativ breite und ausführliche Darstellung soll es den Teilnehmern ermöglichen, sich Inhalte und Methoden selbständig zu erarbeiten. Es werden nicht nur fertige Ergebnisse, Sätze und Beweise in optimaler Form vorgeführt, vielmehr wird der Weg dorthin ausgehend von zugrundeliegenden Fragestellungen und Motiven aufgezeigt. Dadurch unterscheiden sich diese Texte von konventionellen Lehrbüchern. Ihr gewiß beträchtlicher Umfang ist eine Folge dieses Vorgehens.

Nicht immer muß man jede Einzelheit verstanden haben, um Fragestellungen, zusammenhänge und Beweisideen zu erkennen sowie Methoden mathematischer Untersuchung und Beweisführung zu erlernen. Aus diesem Grund sind einige Teile des Textes, die für das Verständnis des Zusammenhangs nicht unbedingt erforderlich sind, engzeilig gedruckt. Zur besseren Übersicht sind Definitionen, Erklärungen und Vereinbarungen sowie Sätze und wichtige Ergebnisse farblich unterlegt.

Jedes Kapitel des Textes besteht in der Regel aus dem
Vortext (auf gelbem Papier)
Haupttext (auf weißem Papier)
Überblick (am Rand gekennzeichnet) und
Übungsaufgaben.

Zweck der Vortexte ist es, den folgenden Abschnitt vorzubereiten. Sie geben einen Überblick über die zu behandelnde Problematik sowie deren Stellenwert und Nützlichkeit. Motive für die Behandlung einzelner Inhalte werden aufgedeckt und Lösungswege skizziert. Soweit dies möglich und sinnvoll ist, werden historische Aspekte berücksichtigt.

In den Haupttexten werden die angesprochenen Probleme weiterverfolgt, exakt formuliert und gelöst. Dabei handelt es sich um den umfangreichsten und wichtigsten Teil der Texte.

Ein Überblick hält die wesentlichen Schritte fest.

Den Abschluß jedes Kapitels bilden Übungsaufgaben, die den Teilnehmern Gelegenheit bieten, ihr Verständnis zu überprüfen und sich durch selbständige Arbeit mit mathematischen Gegenständen und Methoden vertraut zu machen. Dies ist für eine erfolgreiche Teilnahme unbedingt erforderlich. Im Haupttext finden sich außerdem weitere Übungsaufgaben, die beim Lesen an der entsprechenden Stelle bearbeitet werden sollten. Zu diesen Aufgaben sind Lösungen am Ende des jeweiligen Kapitels angegeben.

Beim Durcharbeiten der Texte und bei der Lösung von Übungsaufgaben werden voraussichtlich Schwierigkeiten und Probleme auftreten, die in der Diskussion mit anderen Teilnehmern und Mathematikern geklärt werden können. Dazu dienen die Tutorials.

Tutorials: Hier können Teilnehmer zusammen mit einem Tutor Inhalte und Methoden gemeinsam erarbeiten. Hier besteht auch die Möglichkeit, spontan auftretende Fragen zu diskutieren und zu beantworten und so individuelle Verständnisschwierigkeiten zu überwinden. Hier gibt es Gelegenheit zu sozialem Lernen.

Im Gegensatz zu manchem Frontalunterricht in der Schule oder in Vorlesungen basiert die Arbeit in Tutorials auf Beiträgen aller Teilnehmer. Der Tutor übernimmt nicht die Rolle des Lehrers, sondern im Idealfall die eines Experten, der nur auf Verfangen weiterhilft.

Natürlich müssen sich alle Teilnehmer an die für sie neue Unterrichtsform erst gewöhnen. Deshalb wird sich die Idealform des Tutorials nicht von Anfang an realisieren lassen. Funktionieren kann dies jedenfalls nur, wenn der Tutor nicht gezwungen ist, in erster Linie Inhalte zu vermitteln. Dies bedeutet, daß jeder Teilnehmer Texte und Übungsaufgaben vorher selbständig durchgearbeitet haben muß.

In den Tutorials des Mathematischen Vorsemesters kann man sich arbeitsmethodisch und gruppendynamisch auf typische Lernsituationen an der Hochschule vorbereiten.

Eine weitere wesentliche Funktion der Tutorials ist, Informationen über Studienbedingungen an den jeweiligen Hochschulen zu vermitteln und damit den Erstsemestern Orientierungshilfen zu geben (Studienberatung).

Vorträge: Die traditionelle Unterrichtsform der Hochschule, nämlich die Vorlesung, ist auch heute noch weit verbreitet. Allerdings hat sie nicht mehr so sehr die zu Recht kritisierte Funktion der "Faktenschleuder" vielmehr wandelt sich ihr Charakter hin zu einer Großveranstaltung, die Überblicke bzw. Ausblicke gibt und Akzente setzt.

Die Vorträge des Mathematischen Vorsemesters sind solche Veranstaltungen. Sie Werden von den Lehrenden in den jeweiligen Hochschulorten geplant und durchgeführt.

Fernsehen: Das Mathematische Vorsemester wurde ursprünglich als Fernstudienkurs konzipiert, in dem das Medium Fernsehen eine Schrittmacherrolle spielen sollte. Da es aufgrund seiner flüchtigen Darbietungsart kaum geeignet ist, Inhalte zu vermitteln, sollte es vor allem Problembewußtsein wecken, Motive aufdecken, Problemstellungen verdeutlichen und Lösungswege skizzieren. Mit Hilfe von Graphiken bzw. Trickfilmen sollten schwierige Sachverhalte veranschaulicht werden.

In der Zwischenzeit hat sich jedoch herausgestellt, daß diese und andere Funktionen des Mediums Fernsehen in der Mathematikausbildung z.Zt. noch nicht befriedigend realisiert werden können. Dramaturgische Konzepte des öffentlichen Fernsehens sind für Ausbildungszwecke jedenfalls im Fach Mathematik nur bedingt geeignet. Diese Erfahrung trat – neben anderen bildungspolitischen Gründen – dazu geführt, Fernsehsendungen zum Mathematische Vorsemester nicht mehr auszustrahlen. Stattdessen werden einzelne besonders geeignete oder notwendige Aufzeichnungen über Videorecorder zur Verfügung gestellt. Sie sollen die Funktion der Vortexte unterstützen.

Mit freundlicher Genehmigung des Springer Verlags aus:
Günther Richter (Hrsg.), Mathematisches Vorsemester, Birkhäuser Berlin Heidelberg 1975, doi:10.1007/978-3-662-08572-1