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Mein Indientagebuch
Wir stehen vor einem Bus, Tausende von Leuten schwirren um
uns herum und sorgen für das übliche Chaos und Gedränge.
Wir sehen einem Mann zu, der einen LKW-Reifen hochkant auf dem
Kopf balanciert und damit eine Leiter besteigt, um ihn auf
das Dach des Busses zu befördern. Zirkusreif. Wir fragen uns,
ob solch eine Fähigkeit hier zu den Einstellungsvoraussetzungen
für Busbeladegehilfen gehört.
Wir unterhalten uns mit einem Brahmanen. Plötzlich zieht
er sich einen gelben Pfropfen aus dem Ohr, streicht uns damit
über die Handrücken - was einen tiefgelben Schmierfilm
hinterlässt - und sagt sinngemäß sowas wie 'Safran. Wir
benutzen es sonntags zur Reinigung des Geistes'.
Wir finden uns mit einer Kokosnuss und ein paar Blütenblättern
in der Hand an einem heiligen See stehen, zusammen mit Kollege
Bharat, und rezitieren in rasender
Geschwindigkeit etliche Mantras, die ein vor uns stehender
Brahmane in maschinengewehrartigem Stakkato absondert, ohne
auch nur den leisesten Schimmer zu haben, was wir da auf uns
und die Welt herabbeschwören, ob es heilige Worte sind oder
ob wir gerade die Hinduversion von 'Kill all the white man'
brabbeln. Dann malt der Brahmane uns einen roten Punkt auf die
Stirn. Anschließend reichen wir ihm die Kokosnüsse zurück sowie
einen Stapel Geld und müssen sagen, dass wir 'happy' sind. Unser
Kollege Bharat meint später 'das war unausweichlich'. Bharat
ist auch Brahmane, er muss es also wissen.
Wir fahren in einem Bus auf einer knapp zweispurigen Straße.
Unser Bus überholt gerade einen anderen
Bus, während uns zwei LKW entgegenkommen, die sich ebenfalls
gerade überholen. Alle überleben.
Wir reiten auf Kamelen durch eine Wüste. Man hat eine prächtige
Aussicht, jedes Kamel trägt Vorräte für etliche Tage, man kann
überall bequem Sachen verstauen, wird gemächlich durch die
grandiose Landschaft geschaukelt und fühlt sich wie der König
der Wüste. Was für eine herrliche Art zu reisen!
Ein Tag später: Ich trotte neben unserer Karawane her, mein Rektum
ist wund, meine Beine erholen sich mühsam von Krämpfen und anderen
Zumutungen. Ich kann meinen Schritt lenken, wohin ich will, und habe
nie Angst von irgend was runterzufallen oder harte Gegenstände in
mein Skrotum gerammt zu bekommen. Was für eine herrliche Art zu
reisen!
Wir fahren - wiedermal - in einem Bus. Wir sitzen, zum Glück, denn
der Gang ist rappelvoll. Ich schaue nach rechts und sehe aus kurzer
Distanz einem Mann ins Gesicht, der gerade hingebungsvoll in der Nase
bohrt. Der Finger steckt bis zum zweiten Fingerglied drin. Ich starre
ihn fasziniert an. Er starrt mich fasziniert an und bohrt seelenruhig
weiter.
Wir stehen vor einer Rolltreppe. Vor uns steht eine sehr aufgeregte
Familie und traut sich nicht, dieses Höllengerät zu
betreten. Als sie es schließlich doch wagen - nachdem sie uns
vorgelassen hatten - gleichen ihre Mimik und Gestik denen von Akrobaten,
die sich auf den schwierigsten Teil ihrer Nummer
vorbereiten. Es handelt sich offenbar um die einzige Rolltreppe Indiens.
Wir lesen Zeitung. Es gibt einen 'Tipp des Tages'. Unwillkürlich
fällt einem ein: 'Silberbesteck wird wieder glänzend, wenn man
es mit Zitronensaft abbürstet' oder 'Kopfsalat bleibt auch über
mehrere Tage frisch, wenn man ihn in einer Plastiktüte im
Kühlschrank aufbewahrt'. Und hier? 'Malen Sie sich einen
safrangelben Punkt auf die Stirn'. Wenn's hilft.
Wir nähern uns einem Paanwallah. Das ist ein mobiler Betelverkäufer.
Betelnuss ist eine einheimische Genussdroge, die man kaut und von
der man recht ruhig wird. Es gibt das Zeug traditonell in ein
Blatt gewickelt oder auch modern in Einzelportionen in winzigen
Tütchen. Touristen kaufen es für gewöhnlich nicht. Ich aber
finde das Zeug super und kaue es regelmäßig. Bei dem Paanwallah
bestelle ich meine Lieblingsmarke. Er aber drängt mir andere
Tütchen auf, was ich gerne akzeptiere. Man muss ja auch immer
mal was neues ausprobieren. Später stelle ich fest, dass er
mir anstatt des echten Zeugs lediglich Kaugummi mit Betelaroma
verkauft hat. Was denkt der sich? Vermutlich meint er es nur nett:
'Der weiße Mann hier ist offenbar Amerikaner. Er weiß sicherlich
nicht, was er da gerade bestellt. Amerikaner mögen gerne Kaugummi.
Ich mag den Mann. Deshalb verkaufe ich ihm lieber Kaugummi, das wird
ihn glücklich machen'.
Wir lesen Zeitung. Diesmal die Kinderseite. Kinder sollen über
Santa Claus schreiben, es ist kurz vor Weihnachten. Es gibt viele
verschiedene Meinungen, aber in einem sind sich alle Kinder einig:
'Santa is a great dancer'. So? Später stoßen wir auf einen Trupp
Kinder. Zwei von ihnen sind als Santa Claus verkleidet, ein anderes
hat einen Ghettoblaster dabei. (Für Leser über 45 oder unter 25:
das ist ein tragbares soundstarkes Tonkassettenabspielgerät.)
Sie fragen uns, ob sie uns ein Weihnachtslied
singen sollen. Wir stimmen zu. Der Ghettoblaster wird gestartet und es
ertönt ein fremdartiges Lied, dass bezüglich Tempo, Rhythmus und
Rasanz keine Wünsche offen lässt. Die
beiden Santa Cläuse - einer davon mit weißem Rauschebart und
gewaltiger Plauze ausgestattet - schwingen die Beine über ihre
Köpfe, ihre Arme schwirren auf fantastisch verschlungenen Bahnen
rasend schnell durch die Luft, sie schwenken die
Hüften wie wild und geben richtig Gas. Ihr Tanz wirbelt den
Staub der Straße auf, sie sind regelrecht in Raserei verfallen und wir
wissen: Santa is a great dancer. Indeed.