Zur Einweihung des Biotech-Labors am Engelbert-Kaempfer-Gymnasium in Lemgo,
23. Oktober 2006.
Claus Michael Ringel:
Naturwissenschaftliche Kenntnisse?
"... zur Bildung gehören sie nicht!"
1. Der Titel
Mein Vortragstitel ist ein wörtliches Zitat aus einem vielgelesenen
Buch: Bildung, von Dietrich Schwanitz, einem Philologen, 1940
geboren, er war 1978 - 1997
Professor für Englische Literatur und Kultur an der Universität Hamburg
und starb 2004.
Das vollständige Zitat lautet:
So bedauerlich es manchem
erscheinen mag: Naturwissenschaftliche Kenntnisse müssen zwar
nicht versteckt werden, aber zur Bildung gehören sie nicht.
Das Buch erschien 1999, mittlerweile
gibt es 18 Auflagen. Man kann es als Taschenbuch kaufen, aber auch
bebildert und gebunden;
es gibt eine Hörbuch-Edition (12 CDs)
und davon wieder Teilausgaben, usw. Bei amazon.de gibt es
zur Zeit 19 verschiedene Fassungen! Es ist
wirklich ein großer Renner.
Ich werde noch genauer auf das Buch eingehen, sollte aber betonen,
dass dies keinesfalls ein singulärer Fall1 ist.
So erschien zum Beispiel 2004 das Buch Die Bildungslüge
von Wernder Fuld (mittlerweile ebenfalls als Taschenbuch
erhältlich),
mit dem Untertitel: Warum wir weniger wissen und mehr verstehen müssen.
Dort stehen ganz analoge Weisheiten.
Zum Beispiel werden Vorschläge für Abituraufgaben, die den radioaktiven
Zerfall von Radium oder das Bremsverhalten eines sich mit konstanter
Geschwindigkeit bewegenden Gegenstands (also etwa eines Autos)
thematisieren, folgendermaßen
verteufelt: Im berufsbezogenen Studium erweisen sich solche
Lehrinhalte sehr rasch als nicht wieder verwertbarer Müll.
(p.104)
Hier ist auch an Hans Werner Heymann zu erinnern
(jetzt Professor für Pädagogik an der Universität
Siegen), der in seiner Habilitationsschrift 1995
empfahl, dass eine solide
mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung nur diejenigen brauchen,
die später einen entsprechenden Beruf ergreifen wollten.
Für alle anderen Schüler würde etwa die Mathematik reichen, die man
üblicherweise in den ersten 7 Jahren lernt (also keine quadratischen
Funktionen oder Sinusfunktionen, kein exponentielles Wachstum,...)!
Befördert wird diese Schulkritik von Politikern und Journalisten
(vor allem auch vom Spiegel!), aber
eben leider auch von einigen Didaktikern...
2. Die Suche nach dem Zitat
Um meinen Vortrag vorzubereiten, kaufte ich am Samstag die
Taschenbuchausgabe des Buchs
(vorher hatte ich mich geweigert, dafür Geld
auszugeben). Ich dachte, es ist einfach schöner, wenn ich hier
aus dem Buch selber vorlese.
Aber ich fand das Zitat nicht mehr wieder. Wo sollte ich suchen?
In der Einleitung, dort sollte ja eine Abgrenzung erfolgen, was man
vom Buch erwarten kann. Vergeblich.
Der Hauptteil des Buchs heißt Wissen. Wo könnte man da das Zitat
finden? Die ersten Abschnitte beschäftigen sich mit Geschichte, mit
Literatur, Kunst und Musik - da sollte man das Zitat nicht erwarten.
Dann aber kommt der Abschnitt V:
Große Philosophen, Ideologien, Theorien und wissenschaftliche
Weltbilder. Der letzte Abschnitt widmet sich der "Geschichte
der Geschlechterdebatte. Infrage kommt also nur der Abschnitt V,
Wissenschaftliche Weltbilder, das klang erfolgversprechend.
Schauen wir genauer hin: Unter Wissenschaft und ihre Weltbilder
wird abgehandelt:
Nirgendwo findet sich der inkriminierte Satz.
Dies also der Hauptteil, mit dem Titel "Wissen".
Daran schließt sich ein zweiter, kürzerer Teil an, mit dem Titel
Können. Sollte das Können im Gegensatz zum Wissen auf
das praktische Vorgehen im Gegensatz zum theoretischen Denken
verweisen, etwa auf naturwissenschaftliche Experimente, auf die
Tätigkeit im Labor?
Nein! Das merkt man schon, wenn man sieht,
dass der erste Unterabschnitt den Titel Das Haus der Sprache trägt.
Das "Können", von dem hier die Rede ist, sind die Regeln, nach denen
man unter Gebildeten kommuniziert: Small talk auf einer Party,
das Geschwätz bei einer Vernissage.
Zuvor wird aber thematisiert, was denn Bildung überhaupt sei.
Schwanitz liefert mehrere Antworten.
Die erste ist sehr interessant:
Bildung nennt man ein durchgearbeitetes Verständnis der eigenen
Zivilisation. Und dazu sollen naturwissenschaftliche
Kenntnisse nicht gehören???
Und die vierte Formulierung:
Bildung ist die Vertrautheit mit den Grundzügen der
Geschichte unserer Zivilisation, den großen Entwürfen der Philosophie und
Wissenschaft, sowie der Formensprache und den Hauptwerken der Kunst,
Musik und Literatur. Vertrautheit mit den großen Entwürfen
der Wissenschaft. Dazu müssen doch ganz viele naturwissenschaftliche
Kenntnisse gehören!!!
Es gibt noch ein abschließendes Kapitel über "Reflexives Wissen",
es beginnt mit dem Satz: Gebildet ist erst der, der sein eigenes
Wissen einordnen kann. Eine Seite weiter wird auf Snow verwiesen,
der in den 50er Jahren über die Trennung der zwei Kulturen
geschrieben hat. Schwanitz schreibt, Snow habe die
Formel von den zwei Kulturen geprägt: damit meinte er die Kultur der
literarisch-humanistischen Bildung und die Kultur der
technisch-wissenschaftlichen Berufe. Damals hatte Snow ihre
Trennung beklagt.
(Man sollte die Wortwahl zur Kenntnis nehmen: Bildung versus
Beruf, dagegen verwendet Snow die Begriffe Humanities
und Sciences.)
Und er fügt hinzu: Wer die jetzige
Entwicklung der Wissenschaften verfolgt, hat den Eindruck, dass sie
einander näherrücken. Und es sähe ganz danach aus, daß
dies die Richtung ist, in die auch die Bildung sich entwicklung muß:
Sie wird sich wahrscheinlich zur zweiten Kultur hin öffnen.
Den inkriminierten Satz selber aber gab es auch hier nicht! Im Gegenteil, von einem
Näherrücken ist die Rede.
Irgendwie beruhigte mich das. Ich hielt ja immerhin die 18. Auflage
in meinen Händen. Als das Buch erschien, hatte der Satz für viel Aufregung
gesorgt. Nun war er also in einer der vielen Auflagen gestrichen worden.
Zwar werden naturwissenschaftlichen Themenstellungen auch weiterhin
nicht referiert, aber der Autor schweigt wenigstens über das, wovon
er offensichtlich nichts versteht und nichts verstehen will.
(Man erwartet ja auch nicht von einem Kastraten, dass er
sich über Sexualität auslässt, oder vom Papst, dass er
sich über das Eheleben äußert...)
Hier also: Ein Philologe schreibt über
die ihm nahestehenden Themenbereiche; verzichtet aber darauf,
weiter auszuholen.
Gut gefunden hätte ich, wenn er gleichzeitig auf die Beschränktheit
seines Blickwinkels hingewiesen hätte - aber man kann ja nicht alles
erwarten.
3. Internet-Suche: Google
Um dennoch das Orginalzitat aus einer früheren Auflage
präsentieren zu können, wollte ich in die Bibliothek gehen. Vorher
stöberte ich noch im Internet: dort sollte doch notiert sein, wann
die Änderung erfolgte. Gibt man den Satz bei Google in
Anführungsstrichen ein, so erhält man in der Tat eine reiche
Ausbeute: 20 900 Fundstellen.
20 900 Fundstellen für das wörtliche Zitat,
zusätzlich wird es sicher viele weitere Texte geben,
die den Satz nur verkürzt zitieren, oder paraphrasieren ...
Was sind das für Texte? Die meisten, hoffe ich, distanzieren sich
davon (aber ich habe mir nicht alle 20 900 Internet-Seiten angesehen).
Als erstes zu erwähnen sind natürlich die Redenschreiber. Der Satz
ist eine Steilvorlage für viele Gelegenheiten!
So wie ich mich hier über Schwanitz lustig mache, tun es viele andere
auch:
- Der Minister für Innovation, Wissenschaft, Forschung und Technologie des Landes
Nordrhein-Westfalen Prof. Dr. Andreas Pinkwart
(15.05.2006)
- Der Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus (1.Dezember 2005),
- Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (2.März 2005)
- Staatssekretär Krebs bei der Eröffnung des Bochumer Schülerlabors (26.2.2004)
- Die frühere Schulministerin Schäfer von NRW (14.07.2003), usw.
(Unsere gegenwärtige Schulministerin brüstet sich da lieber mit der Formulierung,
sie sei in Mathe auch immer schlecht gewesen, so bei der Eröffnung einer
Sinus-Tagung im März dieses Jahres.)
Der Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft notiert:
Schwanitz hat vollkommen recht. Denn Gegenstand seines Buches ist ja
nicht die Bildung, wie sie sein sollte, sondern so wie sie in den Kreisen gesehen
wird, die den Inhalt von Schwanitz' Buch für Bildung
halten.2
Aber es gibt auch offene oder heimliche Unterstützung:
etwa von Dr. Franz Peter Waiblinger, Akademischer Direktor am
Institut für Klassische Philologie der Universität München
(und Begründer des Forum Didacticums). Er schreibt zu Schwanitz:
Bei der Lektüre dieses Bestsellers kann man zwar das Augenzwinkern des
Autors nicht übersehen, aber es ist doch auch ein ernster Versuch,
konkret zu beschreiben,
welche Kenntnisse man bei einem gebildeten Menschen erwarten darf. ...
Unter Bildung versteht Schwanitz in traditioneller Weise literarische,
historische, musische, ästhetische Bildung, kurz:
alles, was die Person formt,
ihre Welterfahrung und -deutung prägt. Man mag über diesen Bildungsbegriff
streiten . dass naturwissenschaftliche Kenntnisse erst durch Interpretation
und Bewertung zu Momenten der Menschenbildung werden,
dürfte kaum jemand bezweifeln.
Partiell klingt das vernünftig,
- nur gilt eben: Alle Kenntnisse werden
erst durch Interpretation
und Bewertung zu Momenten der Menschenbildung,
nicht nur die naturwissenschaftlichen! Man sieht wieder den Vorbehalt gegen
naturwissenschaftliches Denken.
- Und auch: Das Prägen der Welterfahrung und Weltdeutung, geschieht dies nicht gerade
durch naturwissenschaftliche Kenntnisse - oder eben durch Unkenntnisse?
Wie gesagt: Google liefert 20 900 Fundstellen.
Aber nirgendwo fand ich einen Hinweis,
dass der Satz in späteren Auflagen gestrichen worden sei.
4. Fundstelle
Und dann fand ich doch noch das Zitat3.
Und zwar im Abschnitt mit der Überschrift - ich hoffe Sie sitzen,
halten Sie sich fest - "Was man nicht wissen sollte."
Es ist ein recht kurzer Abschnitt, der kürzeste des ganzen Buchs.
Es beginnt mit dem Satz:
Zur Bildung gehört auch zu wissen, was man nicht wissen darf.
- Hier sein erstes Beispiel: Es wird
in der Regel nicht als Zeichen
tieferer Bildung gewertet, wenn man sich in den Rotlichtvierteln aller
größerer Städte des Landes genau auskennt.
- Als nächstes erwähnt er dann
den Klatsch der Regenbogenpresse (z.B. die Eheprobleme im
Hause des Fürsten von Monaco),
- dann kommen die Gameshows und Reality-Shows im Fernsehen.
- Und schließich findet man, in diesem Abschnitt, den magischen Satz:
"So bedauerlich es manchem
erscheinen mag: Naturwissenschaftliche Kenntnisse müssen zwar
nicht versteckt werden, aber zur Bildung gehören sie nicht".
Eingeleitet wird dies wie folgt:
Die naturwissenschaftlichen Kenntnisse werden zwar in der Schule
gelehrt, sie tragen auch einiges zum Verständnis der Natur, wenig aber
zum Verständnis der Kultur bei.
Ich wiederhole: "sie tragen auch einiges zum Verständnis der
Natur bei" (und "wenig ... zum Verständis der Kultur").
Lassen Sie mich rekapitulieren:
- Das Buch hat den Untertitel: Alles, was man wissen muss.
- Unser Zitat kann man sicher
umformulieren zu: Man braucht sie nicht zu haben,
die naturwissenschaftlichen Kenntnisse.
- Aber er steht in einem Abschnitt mit der Überschrift:
Was man nicht wissen sollte.
- Und der erste Satz erläutert noch schärfer:
Zur Bildung gehört auch zu wissen, was man nicht wissen
darf.
Thematisiert wird also eigentlich
die totale Ausgrenzung der Naturwissenschaften aus dem intellektuellen
Leben, die völlige Negation der Bedeutung der Naturwissenschaften.
Naturwissenschaftliches Denken entspricht für ihn den Rotlichtvierteln,
der Klatschpresse, dem Schmuddelfernsehen.
Es gibt ganz vorne im Buch noch eine Übersicht über die einzelnen Kapitel.
Zum Kapitel Was man nicht wissen sollte wird dort ausgeführt:
Dieses Kapitel behandelt jene Wissensprovinzen aus dem
Land der Trivialität, die man besser im dunklen lässt, wie etwa
den enzyklopädischen Überblick über die Privatverhältnisse von
Schauspielern, Adligen und Prominenten, und es informiert über die
Regeln, die die kommunikationstechnische Bewirtschaftung von abseitigen
oder bildungsfernen, trivialen oder schlichtweg bedenklichen Kenntnissen
betreffen.
Es geht hier also um Kenntnisse, die
- abseitig, oder
- trivial, oder
- bedenklich
sind, und dazu zählen für Schwanitz die naturwissenschaftlichen Kenntnisse.
Wir können es uns aussuchen, ob wir sie als abseitig, oder trivial,
oder bedenklich einstufen wollen.
Wenn man diese Sätze liest, so überlegt man sich, ob sie nicht vielleicht
nur ironisch gemeint sind, als Spiegelbild, als Kritik an den
Party-Gesprächen: Viele haben dies so interpretiert und es mag ja
auch so sein (wenn auch die Einbindung dieser Sätze in ihr
Umfeld, aber auch die Emphase bei anderen Themenstellungen dagegen
sprechen). Aber auch als Satire ist die Aussage verheerend:
dies ist das Bild, das in weiten Kreisen der deutschen
Öffentlichkeit das Verhältnis zu den Naturwissenschaften bestimmen soll.
All dies gehört zu einem Wissenschaftskrieg, der in den letzten
Jahrzehnten ziemlich unverhüllt geführt wird.
Er wird geführt auf ganz verschiedenen Ebenen:
- Im Rahmen des heutigen Tags interessiert uns die Bildungsdebatte.
- Im Rahmen der wissenschaftlichen Forschung eskalierte die
Auseinandersetzung in der Sokal-Debatte, in der der Umgang von
sogenannten "postmodernen" Philosophen mit der
modernen Naturwissenschaft und der Mathematik kritisiert wurde.
(Sokal hatte eine Parodie als wissenschaftliche Arbeit eingereicht,
die auch publiziert wurde....
Lesenswert ist das Buch von Sokal und Bricmont
Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die
Wissenschaft mißbrauchen, München 1999)
- In den letzten Tagen konnten Sie vieles darüber lesen, als
drei sogenannte Elite-Universitäten ausgewählt wurden, zwei dieser
Unis sind technische Hochschulen, alle drei stehen für
naturwissenschaftlich-technisches Denken: die
Geisteswissenschaftler fühlten sich übergangen, und dies sicher
mit Recht.
5. Gegensteuern
Im Jahr 2001 gab es ein gemeinsames
Manifest des Philologenverbands
und des VDI (Verein deutscher Ingenieure) zur
Mathematisch-naturwissenschaftlichen und technischen Bildung,
aus dem ich zitieren möchte:
Wir beobachten mit Sorge, daß wir
im Bereich der naturwissenschaftlichen, mathematischen
und der technischen Bildung in Gefahr sind, den Anschluß an vergleichbare
Länder, aber auch an den Stand von Forschung und Technik zu verlieren:
Wichtige wissenschaftliche und technische Ergebnisse und Erkenntnisse finden
nicht mit der notwendigen Verbindlichkeit und Kontinuität Eingang in das
allgemeinbildende Schulwesen. Bezeichnend hierfür ist, daß grundlegende
Entwicklungen dieses Jahrhunderts aus Wissenschaft (Quantenphysik,
Kosmologie, Chaosforschung, Bionik, Biochemie oder Gentechnik) und
Technik leider spurlos an unserer Jugend vorbeigehen und diese
mit Weltbildern aus dem 19. ins 21. Jahrhundert wechseln.
Das Labor, das hier heute eingeweiht wird, sollte hier hilfreich sein!
6. Zurück zu Schwanitz. Seine Liste der "Bücher, die die Welt verändert haben"
Schwanitz ist belesen. Sein Buch enthält eine reich kommentierte
Liste4 von
Bücher, die seiner Meinung nach die
Welt verändert haben (20 Seiten).
Ordnet man zum Beispiel die Werke
historisch nach ihrer Entstehung5,
so ergibt sich folgendes Bild: Es werden sechs alte Texte erwähnt:
- Die Bibel
- Herodot (484-425)
- Euklid (~ 300 v.u.Z.) Elementa Geometrica
- Plinius Secundus (23-79) Naturalis Historia
- Ptolemäus (-161 u.Z.) Cosmographia
- Galen (129-199) Opera
Hinzufügen sollte man noch Homer, den er an verschiedenen
Stellen im Buch nennt, aber hier wohl vergessen hat.
Von diesen sechs oder sieben Bücher behandeln immerhin vier
mathematisch-naturwissenschaftliche Themen! Euklid: das ist
Mathematik, vor allem Geometrie, Ptolemäus Astronomie und
Geophraphie, Galen war Arzt und gilt als einer der Begründer der
Medizin. Ja und Plinius Secundus? Sein vielbändiges Werk
gab einen ziemlich volständigen Überblick über das
damalige naturwissenschaftliche Wissen: Physik, Chemie, Biologie ...
Und er führt weiter auf6:
- Kopernikus (1473-1543)
- Galilei (1564-1642)
- Newton (1643-1727)
- Linne (1707-1778)
- Malthus (1766-1834): Principle of Population
- Darwin (1809-1882)
- Einstein (1879-1955): Allgemeine Relativitätstheorie
Natürlich gibt es gravierende Desiderate: Zu nennen sind auf jeden Fall
fehlende Texte zur
- Quantenphysik
- Informationstechnologie
- Gentechnologie
- aber auch die Berichte des Club of Rom, die zu einem radikalen
Umdenken führten.
Aber immerhin muss es überraschen, dass hier ganz
unumwunden Umwälzungen notiert sind, die durch die naturwissenschaftliche
Forschung ausgeklöst wurden. Sie haben, das gibt er offen zu (was bleibt
ihm auch anders übrig), die Welt verändert. Offensichtlich gehört für
ihn das Wissen, dass es diese Umwälzungen gab, zur Bildung - nicht aber
das inhaltliche Verstehen, worum es sich jeweils eigentlich handelt.
Schon merkwürdig.
7. Die Einheit der zwei Kulturen
Wir haben den eklatanten Widerspruch notiert, dass Schwanitz zwar eine Liste
von Büchern bereitstellt, die seiner Meinung nach die Welt
verändert haben, dass er aber die entsprechenden Inhalte aus seinem
Wissenskanon ausklammert.
Ein zweiter innerer Widerspruch ist anzumerken.
Viele der Dichter und Philosophen, aber auch Künstler, auf die
er verweist, würden das vorgelegte Bildungskonzept7 in Grund und Boden
verdammen. Denken wir etwa an
- Goethe, der sich selbst als Naturwissenschaftler sah,
- natürlich an die beiden Humboldts
- an Platon - über dem Eingang der
von ihm gegründeten und geleiteten Akademie
stand der Satz: "Kein der Geometrie Unkundiger möge hier eintreten".
- an Aristoteles, der sich
mit zahlreichen Wissensgebieten beschäftigte, er war nicht nur
Philosoph, sondern ein echter Natorforscher.
- an die arabische Wissenschaft im Mittelalter (von Schwanitz
allerdings völlig unterschlagen)
- an die Renaissance: die Einheit von Wissenschaft und Kunst etwa bei
Leonardo da Vinci.
- an Leibniz:
- an Kant, Fichte, Hegel.
- an die Wissenschaftsphilosophie der
20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts.
- aber auch an viele Schriftsteller zu Beginn
des 20.Jahrhunderts, wie etwa Broch, Benn (Arzt),
Um 1900 gab es eine regelrechte Verflechtung
zwischen den philosophierenden Naturwissenschaftlern, wie Ernst
Mach,
und den Literaten (Hofmannsthal und Hermann Bahr hörten
Machs Vorlesungen, Robert Musil promovierte mit einer Arbeit
über Ernst Mach, auch Lenin beschäftigte sich damit (und mit
Max Planck und Ludwig Boltzmann....)
- Von den gegenwärtigen Schriftsteller ist etwa Enzensberger zu nennen.
- Und bei Beckett gibt es zum Beispiel die Mathematik des Steine-Lutschens
(im Roman Molloy)
Gerade auch im 19. Jahrhundert galt naturwissenschaftliches Denken
als selbstverständlicher Bestandteil des
Bildungsgutes und wurde als kulturprägend und -formend
verstanden8.
8. Lemgo
Ich sollte noch auf Lemgo eingehen.
- Die Schule nennt sich Engelbert-Kaempfer-Gymnasium,
und steht damit für Weltoffenheit und
Wissenschaftsorientierung.
- Und da ist der berühmte
Apothekenerker mit seinen 10 "Weisen"
(der Naturforscherfries an der Ratsapotheke in Lemgo).
Auch hier sind es die beiden Attribute Weltoffenheit und
Wissenschaftsorientierung, die hervorstechen9.
- Schließlich gibt es ganz in der Nähe: Stadthagen und Rinteln, mit
ihrer alten Universitätstradition.
Nach Rinteln verlegte Fürst Ernst zu Holstein-Schaumburg 1621
die zwei Jahre zuvor in Stadthagen gegründete Universität
"Academia Ernestina",
Rinteln war dann für mehr als 100 Jahre neben Helmstedt die einzige
Universitätsstadt in Nordwestdeutschland.
Hier sollte man noch die klassische Universitätsbildung10
in Mittelalter und Neuzeit
thematisieren,
die eigentlich immer das Hin- und Herspiel zwischen Theorie und Praxis,
zwischen Geistes- und Naturwissenschaften kannte! Aber nicht heute.
Engelbert Kaempfer, der Apothekenerker, die Rinteler Universität:
All dies ist zwar Vergangenheit, aber ich finde, dass die Aktivitäten,
aus deren Anlass wir uns heute hier treffen, an diese Tradition in
hervorragender Weise anschließen.
9. Schluß
Zum Schluss noch ein Zitat von Rudolf Bosch. Die Bosch-Stiftung hat ja
die Mittel für das neue Labor zur Verfügung gestellt.
-
Bildung hebt ein Volk und macht es nicht nur geeignet, sich
wirtschaftlich zu behaupten, sondern gibt ihm auch die Möglichkeit,
politisch richtig
zu handeln und Irrlehren als solche zu erkennen.
Anmerkungen
-
Natürlich gibt es auch andere Bücher, zum Beispiel Ernst Peter
Fischer: Die andere Bildung, ein Komplementärwerk
(Untertitel: Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte)
und trotz des Titels wird hier versucht, auch Beziehungen
zwischen "der einen" und "der anderen" Kultur herzustellen.
(Aber es scheint einen drastischen Unterschied bei den
Verkaufszahlen zu geben.)
- Prof. Dr. Knut Urban in einer Laudatio auf
Ernst Peter Fischer, den Autor von "Die andere Bildung".
-
Übrigens wird man doch auch noch an anderen Stellen fündig: etwa S.
507: Der zweite thermodynamische Hauptsatz gehört nicht zur Bildung.
- Daneben gibt es noch eine zweite, ebenfalls reich kommentierte
Bücherliste - nämlich von Büchern "zum Weiterlesen" (15 Seiten).
Die beiden Listen sind übrigens disjunkt!
- Schwanitz bringt die Bücher in der
Reihenfolge des Erstdrucks, beginnt zum Beispiel mit
Iustinian (482-565, Kaiser von Ostrom): Institutiones (ein
Lehrbuch über das römische
Recht), weil es schon 1468 im Druck erschien.
-
Gegebenenfalls gibt es Verweise von der Liste auf den
Haupttext; also eine systematische Einordnung.
Bei den mathematischen und naturwissenschaftlichen
Werken erfolgt dies nur ein einziges Mal, nämlich bei Darwin,
das meiste andere gibt es ja gar nicht in seinem Bildungskanon!
-
Bildung, Erziehung - Education
Ein derartiger Bildungskanon ist durchaus spezifisch deutsch - im
Englischen gibt es nicht einmal eine echte begriffliche Entsprechung:
Das Wort education bezeichnet beides:
Erziehung und Bildung
- Dr. Steffen Groß
(Einführungsveranstaltung 2005, Studiengang Kultur und Technik.)
http://www.tu-cottbus.de/kut/documents/Eroeffnung_Gross.pdf
-
Die entsprechenden Internetseiten verweisen darauf, dass
die Herkunft der 10 "Weisen" eindeutig zeigt, dass zumindest die medizinische
Wissenschaft keine Grenzen kannte: sie stammten aus (genannt sind die
heutige Staaten): Griechenland (2), Der Apothekenerker ist damit eine dauerhafte
Ermahnung zum Dialog der Kulturen.
-
Das Trivium (drei Wege) und das Quadrivium (vier Wege).
Das Trivium umfasste die drei sprachlichen Fächer Grammatik,
Dialektive (+Logik) und Rhetorik.
der sieben freien Künste, das Quadrivium die mathematischen Fächern
Arithmetik, Geometrie (einschließlich Geographie und Naturgeschichte),
Astronomie und Musiktheorie.
Zusätzlich zu notieren sind:
Architektur, Medizin, und die
Propädeutik für die höheren Fakultäten:
Theologie,
Recht,
Medizin.
Und es gab auch die
Artes mechanicae (Handwerkskünste)
(Artes vulgares et sordidae, artes ludicrae): nämlich
opificium (Handwerk),
armatura (Kriegskunst, Waffenschmiede),
navigation (Seefahrt, Handel, Erdkunde),
agricultura (Landbau, Hauswirtschaft),
venation (Jagd, Tier(heil)kunde),
medicina (Heilkunde).
theatrica (Hofkünste).
Und auch die Artes incertae (verbotene, dunkle Künste):
Magie,
Mantik,
Gaunertum: Betteln, Betrug,