Claus Michael Ringel

Algebra und Kombinatorik

Zur Verabschiedung von Luise Unger (Hagen, 30.09.2021)



Wie die meisten wohl wissen, habe ich mich schon vor längere Zeit aus dem offiziellen Mathematik-Zirkus zurückgezogen. Ich widme zwar immer noch einige Zeit mathematischen Problemen, aber eigentlich nur ganz privat; ich informiere mich nur noch über ganz wenige mathematische Fragestellungen, kenne kaum die neueren Entwicklungen, geschweige denn die gegenwärtigen Akteure, nehme an keinen Tagungen teil, halte grundsätzlich keine Vorträge mehr. Insofern muss es merkwürdig erscheinen, dass ich heute hier stehe und ein paar Worte zur Verabschiedung von Luise Unger sagen will - es wird, auch wenn es leider so angekündigt ist, keinesfalls ein wirklicher Vortrag sein! Dass ich hier denn doch eine Ausnahme machen muss, hat folgenden Grund. Luise Unger gehört zu meinen ersten drei (oder besser vier) Doktoranden: Dieter Happel (1980), Ernst Dieterich (1981), Luise Unger (1984) - und hinzuzuzählen ist eben auch Dieter Vossieck, dessen Dissertation 1984 vorlag, der sich aber entschloss, nach Zürich zu gehen, sozusagen ins Auge des Hurrikans, um dort zu promovieren. Da ich beim Gedenk-Kolloqium für Happel, bei der Verabschiedung von Dieterich und zum 60. Geburtstag von Vossieck gesprochen habe, fühle ich mich einfach verpflichtet, auch ein paar Worte zur Verabschiedung von Luise zu sagen. Ich kam 1978 nach Bielefeld, und die ersten sechs Jahre 1978-1984 bildeten eine sehr fruchtbare und schöne Einheit, die leider 1984 ein abruptes Ende fand.

Der Titel Algebra und Kombinatorik deutet an, dass man Luises Wirken im Licht der Entwicklung der Algebra, im Zusammenspiel von Algebra und Kombinatorik, sehen muss.

1. Algebra. Woher kommt das Wort "Algebra"? Es ist viel jünger als "Geometrie" - die Erdvermessung. Das Wort "Algebra" geht zurück auf Al-Chwarizmi (Muhammad ibn Musa Abu Dscha'far Al-Chwarizmi). Dies war ein persisch-muslimischer Mathematiker, auch Geograph und Astronom des 9. Jahrhunderts, genauer etwa 780-850. Sein Hauptwerk: Kitab al-dschabr wa-l-muqabala beschreibt das Lösen quadratischer Gleichungen als Ergänzen (al-dschabr) und Ausgleich. Der Ursprung von "Algebra" ist die quadratische Ergänzung!

Algebra ist also Erbe der Islamisierung Europas. Man sollte hier an den früheren Bundespräsidenten Christian Wulff erinnern. Eine vielzitierte Formulierung von ihm (von 2010) kann man in unserem Zusammenhang wohl so umformulieren:

Die Algebra gehört zu Deutschland.

Rezipiert wurde das Werk von Al-Chwarizmi in Europa zuerst in Italien und Spanien, besonders zu erwähnen ist Fibonacci, also Leonardo da Pisa (etwa 1170-1240). Insofern gehört die Algebra also zu Italien, zu Spanien, zu ganz Europa.

Al Chwarizmi verwendete keine Symbole, sondern nur eine verbale Beschreibung. Die Verwendung von Symbolen, wie etwa unser x, als Bezeichnung einer Variablen, begann erst viel später. Das x wurde von Adam Ries (1492-1550) als coss bezeichnet, die Algebraiker wurden Cossisten genannt. Es waren die Kaufleute und Händler, für die Adam Ries die Verwendung der arabischen Zahlen, auch das Denken mit Variablen, also eben das algebraische Denken, propagierte. Auch im 20. Jahrhundert, als die ersten Tabellenkalkulationsprogramme, wie Excel, eingeführt wurden, waren es die Kaufleute, für die man zum Beispiel mit den sogenannten "Was wäre wenn..."-Möglichkeiten warb, also mit dem Simulieren von Funktionsverläufen.

Wenn ich hier die alten Rechenmeister wenistens kurz erwähne, so gibt es dafür einen Anlass: Luise Unger hat ja auch Geschichte studiert - und sie hat sich während des Studiums recht intensiv mit den alten Rechenbüchern und Rechenverfahren beschäftigt.

Am Rande sei vermerkt, dass die erste Frau des Propheten Mohammed (sie hieß Chadidscha) eine wirtschaftlich erfolgreiche Großkauffrau war. Und Luther profitierte davon, dass seine Frau, Katharina von Bora, umfangreiche Ländereien, auch eine Bierbrauerei, verwaltete und bewirtschaftete (sie kam mit 6 in eine Klosterschule und lernte Lesen, Schreiben, und eben Rechnen, auch Latein). Es waren also durchaus auch Frauen, für die Rechnen wichtig war (und Männer, die davon profitiert haben).

Ich habe oben gesagt, dass die Algebra zu Deutschland gehört. Nicht alle sehen das so. Es gab in den Achziger Jahren eine Kampagne Sieben Jahre Mathematik sind genug, die aus dem Schulunterricht gerade das algebraische Denken eliminieren wollte. Und 2019 formulierte Richard David Precht: Algebra braucht kaum jemand im Leben. Das ist verschwendete Zeit.

Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Algebra vor allem kommutative Algebra, das Studium von Polynomen in mehreren kommutierenden Variablen. Damit verbunden war natürlich das Studium der Nullstellenmengen solcher Polynome, also zum Beispiel das Studium von algebraischen Kurven und Flächen. Die klassische algebraische Geometrie ist nichts anderes als kommutative Algebra.

2. Emmy Noether und die Moderne Algebra. Kommutative Algebra ist im wesentlichen das Studium von Idealen in Polynomringen, oder etwas allgemeiner: das Studium von Moduln. Und man kann sich nicht auf die kommutative Welt einschränken: Algebraisches Denken muss den allgemeinen Fall nicht-kommutativer Variablen ins Auge fassen. Diese Sichtweise stammt vor allem von Emmy Noether, die in vielerlei Hinsicht die Algebra revolutioniert hat, sie gilt als die Mutter der modernen Algebra. Moderne Algebra, das ist Strukturtheorie. Statt einzelner Polynome werden Ideale, werden Moduln betrachtet. Wenn wir heute von Modularisierung sprechen (beim Arbeiten mit Computer-Programmen, bei der Strukturierung von Studiengängen, usw), so muss an Emmy Noether und ihre Isomorphiesätze erinnert werden. Strukturen werden in Bausteine zerlegt und dann wieder zusammengesetzt.

Die "Moderne Algebra" eroberte die Welt im Fluge. Van der Waerden, ein Schüler von Emmy Noether, schrieb ein entsprechendes Lehrbuch, mit Hinweis auf die Vorlesungen von Emil Artin und Emmy Noether. Mehrere Auflagen erschienen nacheinander, schließlich wurde aus dem Titel "Moderne Algebra" einfach "Algebra".

3. Hier ist aber ein Rückblick erforderlich: Wenn von "Moderner" Algebra gesprochen wird - was war denn davor? Was war die "altmodische" Algebra?

Wie gesagt, es war das Studium von Nullstellenmengen sagen wir von Kurven, von Flächen. Aber es war viel mehr als das, was die moderne Strukturtheorie untersuchen und beschreiben will. Die einzelnen Objekte, also die Kurven, die Flächen wurden ernst genommen und analysiert. Zwei Beispiele aus dem Standard-Lehrbuch Algebra II von Weber (1896) sollen erwähnt werden: kubische Flächen und biquadratische Kurven.

Beginnen wir mit kubische Flächen, also Flächen, die durch ein Polynom vom Grad 3 definiert sind. Cayley und Salmon haben 1849 gezeigt, dass es auf jeder glatten kubischen Fläche immer genau 27 Geraden gibt. Und diese Geradenkonfiguration hat sehr interesante Eigenschaften: Eine davon: Es gibt genau 72 Teilmengen, die aus 6 paarweise windschiefen Geraden bestehen! Was ist die Bedeutung der Zahl 72 ? Es ist die Anzahl der Wurzeln des Wurzelsystems E_6. Diese windschiefen Teilmengen kommen paarweise daher, als Schläfli'sche Doppelsechsen (eine Doppelsechs besteht aus 12 Geraden, sagen wir sechs roten und sechs blauen, sodass jede rote Gerade genau 5 der 6 blauen schneidet, und jede blaue Gerade genau 5 der 6 roten). Und so weiter.

Nun zu den ebene Kurven vom Grad 4. Hier sind es die Doppeltangenten, die von Interesse sind, also die Geraden, die die Kurve in 2 Punkten berühren. Generisch Kurven (Kurven in allgemeiner Lage) haben genau 28 Doppeltangenten! Und hier gibt es einen entsprechenden Zusammenhang zum Wurzelsystem E_7.

Schliesslich: 27+1 = 28. Startet man mit einer glatten kubischen Fläche und nimmt den Tangentialkegel in einem Punkt x, der auf keiner der 27 Geraden liegt, so erhält man eine ebene biquadratische Kurve; die Geraden auf der Fläche liefern 27 Doppeltangenten, die Tangentialebene im Punkt x liefert eine weitere Doppeltangente, also die 28.

Ich sprach hier bei beiden Problemen von Wurzelsystemen: sie tauchen in der Lie-Theorie auf, beim Studium der halbeinfachen Lie-Algebren und beschreiben deren Struktur. Sie wurden von Cartan klassifiziert und die einzelnen Typen mit den Buchstaben A, B, C, ... , G bezeichnet. Ihnen wird jeweils ein sogenanntes Dynkin-Diagramm zugeordnet. Dabei handelt es sich bei den Typen A, B, C, D um Serien, die jeweils durch die natürlichen Zahlen indiziert sind, bei E_6, E_7, E_8, F_4 und G_2 um fünf Ausnahme-Systeme. Diese Klassifikation spielt mittlerweile in vielen Gebieten der Mathematik, vor allem aber auch in der mathematischen Physik, eine wichtige Rolle.

Wie kam es zur Modernen Algebra? So beeindruckend die Ergebnisse der klassischen Algebra waren, sie stieß gegen Ende des 19. Jahrhunderts an ihre Grenzen - in dreifacher Hinsicht: Erstens: Die klassische Invariantentheorie lieferte eine Unzahl von Daten, die kaum mehr überblickt werden konnten. Zweitens: Bei komplizierteren Kurven und Flächen versagte die Anschauung. Diese beiden ja eher praktischen Probleme hat man heute dank der Möglichkeiten der Computer im Griff. Gerade die Computer-Geometrie hat sich als sehr hilfrich erwiesen. Viel grundsätzlicher aber waren die theoretischen Schwierigkeiten. Die klassische Algebra war immer kommutative Algebra, nicht-kommutative Algebren wie die äußeren Algebren von Graßmann waren Fremdkörper. Erst die "moderne Algebra" lieferte den allgemeinen Rahmen um mit diesen Objekten adäquat arbeiten zu können. Allerdings wurde im ersten Überschwang der kombinatorische Charakter vieler algebraischer Probleme vernachlässigt.

5. Darstellungstheorie. Die Darstellungstheorie von Algebren, das Arbeitsgebiet von Frau Unger, begann mit der Konstruktion der "hyperkomplexen Zahlen", insbesondere der Quaternionen (durch Hamilton 1843), wie auch der äußeren Algebren durch Graßmann (etwa 1846). Durch die Arbeiten und Ideen von Emmy Noether wurden Ringe und Moduln recht populär, vor allem Richard Brauer und Nakayama sind zu nennen. Die moderne Darstellungstheorie begann mit der Lösung der ersten Brauer-Thrall-Vermutung durch Rojter (1968), und ziemlich gleichzeitigen Arbeiten von Gelfand-Ponomarev, Auslander und Gabriel. Bemerkenswert ist, dass alle diese Arbeiten kombinatorische Hilfsmittel einsetzen: Rojter das, was später das Gabriel-Roiter-Maß genannt wurde, Gelfand und Ponomarev Wörter in endlichen Alphabeten, aber auch die Verwendung von ganzen quadratischen Formen, Auslander legte den Grund für die mittlerweile ganz zentrale Theorie der Auslander-Reiten-Köcher (Köcher sind nichts anderes als gerichtete Graphen, wie sie schon Grothendieck, aber auch Mitchell und Freyd, zur Beschreibung von kommutativen Diagrammen verwendet haben.)

Besonderes Aufsehen hat ein Ergebnis erregt, das meist Satz von Gabriel genannt wird: Ein zusammenhängender Köcher ist genau dann darstellungsendlich, wenn er vom Typ A_n, D_n, E_6, E_7, E_8 ist. Und es gibt den Zusatz: In diesem Fall sind die Dimensionsvektoren der unzerlegbaren Darstellungen gerade die postitiven Wurzeln des zugehörigen Dynkin-Diagramms.. Gabriel selbst nannte den Satz Satz von Yoshii: Yoshii, ein Schüler von Nakayama hatte ein entsprechendes, aber fehlerhaftes Ergebnis publiziert (er behauptete, dass ein weiterer Fall, nämlich der Fall E_7~, darstellungsendlich sei). Parallel zu Gabriel, oder sogar etwas früher, haben auch Bäckström (Stockholm) und Kleiner (Kiev) die darstellungsendlichen Köcher bestimmt - der Satz sollte also eher Satz von Yoshii und Bäckström-Gabriel-Kleiner genannt werden. Gabriels Fassung erregte vor allem deswegen großes Aufsehen, weil er den Zusammenhang zu Wurzelsystemen, also zur Lie-Theorie herausstellte - aber dieser Aspekt der Theorie stammte gar nicht von ihm selbst, sondern von Tits, der damals auch in Bonn lehrte. Das Auftreten der Dynkin-Diagramme hat viele fasziniert. Die Konstruktion der entsprechenden Hall-Algebren lieferte später einen direkten Zusammenhang zwischen der Darstellungstheorie von Köchern und den Kac-Moody Lie-Algebren: eine "Kategorifizierung" der Wurzelsysteme mit Hilfe der Darstellungstheorie von Algebren.

Die Darstellungstheorie ist stark kombinatorisch geprägt. Sie ist natürlich Teil der "modernen" Algebra, knüpft aber entscheidend auch an die "altmodische" Algebra an.

6. Luise Unger. Hier bin ich nun an dem Punkt, wo ich wenigstens kurz auf einige Arbeiten von Luise Unger eingehen sollte.

Als erstes sei auf ihre Dissertation verwiesen: Sie ist den präinjektiven Darstellungen eines Baumköchers gewidmet. Unger zeigt, dass die Existenz einer eindeutig bestimmten Darstellung, der kleinsten aufrichtige Darstellung. Warum ist das von Interesse? Jede unzerlegbare präinjektive Darstellung liegt im Auslander-Reiten-Orbit eines unzerlegbaren injektive Moduls, bestimmt also eine Ecke des Baums! Man sieht, dass es eine durch die Darstellungstheorie ausgezeichnete Ecke gibt. Besitzt der Baum einen einzigen Verzweigungspunkt, so ist die gesuchte Ecke gerade der Verzweigungspunkt, das ist nicht überraschend. Im Allgemeinen liegt die ausgezeichnete Ecke zwischen den Verzweigungspunkten.

Zweitens gibt es ihre Klassifikation der Minimalen wilden verkleideten Algebren (siehe https://www.math.uni-bielefeld.de/~sek/collect/lists/minimalwildconcealed.pdf). Was für Baumtypen sind im wesentlichen möglich? (1) Ein einziger Verzweigungspunkt, und 5 kurze Arme. (2) Die Doppelerweiterungen (üblicherweise mit einer Doppeltilde notiert) von D_n, mit n zwischen 4 und 8. Und (3) die Doppelerweiterungen von E_n, mit n zwischen 6 und 8. Es handelt sich immer um Algebren mit Rang höchstens 10 (dabei ist der Rang gerade die Anzahl der einfachen Moduln). Diese Klassifikation gab und gibt Anlass zur Vermutung, dass alle minimal wilden Algebren Rang höchstens 10 haben. Diese Vermutung ist aber immer noch offen.

Drittens, und hier handelt es sich nicht um eine Einzelarbeit, sondern um eine Vielzahl von Arbeiten (einige davon sind Gemeinschaftsarbeiten mit Dieter Happel) hat sie sehr intensiv und erfolgreich den Komplex der Kipp-Moduln einer erblichen Algebra analysiert. Ein Übersichtsartikel von Unger zu diesen Arbeiten ist vor nicht allzu langer Zeit erschienen. Als Luise mit ihren Untersuchungen begann, galt dieser Simplizialkomplex eigentlich als ein Kuriosum, dessen Bedeutung man schlecht einordnen konnte. Das hat sich aber grundlegend geändert, insbesondere durch die Entwicklung der Cluster-Algebra durch Fomin und Zelevinsky und viele andere. Die entsprechenden Cluster-Kipp-Algebren haben für großes Aufsehen gesorgt, und hier ist es gerade der Cluster-Komplex, der im Zentrum des Interesses steht. Der von Unger und Happel-Unger untersuchte Kipp-Modul-Komplex bildet das Herz eines solchen Cluster-Komplexes, der Cluster-Komplex ist eine Art Vervollständigung. Hier müsste man nun weiter ausholen und wenigstens einige der sehr schönen Ergebnisse näher beleuchten. Vielleicht hat der eine oder andere ja Lust, sich in die Originalarbeiten oder zumindest den Überblicksartikel zu vertiefen.

7. Es gab in Bielefeld ziemlich regelmäßig Kolloquien, Algebra-Tage, oft samstags. Ich erinnere mich, dass einmal Karin Erdmann, Christine Riedtmann und Idun Reiten eingeladen waren - eher zufällig waren es drei Frauen - in der Darstellungstheorie gibt es ja sehr viele aktive Mathematikerinnen! Genauer war es wohl so, dass Vorträge von Riedtmann und Reiten schon länger geplant waren, aber immer wieder verschoben werden mussten, und da schien es keine schlechte Idee zu sein, dazu Karin Erdmann einzuladen. Nach den ersten beiden Vorträgen gab es eine Kaffeepause - und einen Eklat: ein Mathematiker aus Südafrika, PoC, war anwesend und beklagte sich, dass zwei Frauen (eben Erdmann und Riedtmann) vorgetragen hätten, aber er freue sich auf den dritten Vortrag - ohne zu ahnen, dass sich hinter dem nicht ganz so üblichen Vornamen "Idun" auch eine Frau versteckte (und er lobte Reitens mathematische Arbeiten ganz überschwänglich). Diskutiert wurde beim Kaffee also inwieweit es geschlechtsspezifische Unterschiede des Denkens gäbe. Gabriella d'Este, eine italienische Algebraikerin, die auch zu Gast war, merkte an, dass sie die Aufregung nicht verstehe, in Italien halte man das algebraische Denken eher für typisch weiblich: es sei das Denken der Lehrer, und Lehrer seien nun einmal Frauen. Und schaut man sich die mathematische Institute in Südeuropa an, in Italien, aber auch in Spanien, so fällt eine Vielzahl von Algebraikerinnen auf! in Nordeuropa (aber auch in Deutschland) ist das anders - Idun Reiten, aber eben auch Luise Unger bilden da schon Ausnahmen.

Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die chinesischen Schriftzeichen für "Mathematik":

shu4 xue2. Das zweite Zeichen steht für "Wissenschaft", wofür steht das erste? So ein Zeichen kann aus mehreren Komponenten bestehen (hier sind es drei), die selbst wieder Schriftzeichen sind. Eine dieser Komponente verweist häufig auf die Aussprache, die anderen auf die Bedeutung. Im Fall von shu4 fällt auf, dass die Bedeutungskomponenten ganz klar gelesen werden können: eines der beiden, links oben, ist das Zeichen für "Reis". Mathematik, Rechnen, das ist das Zählen von Reiskörnern. Links unter findet man das Zeichen für "Frau": es ist die Frau, die sich um die Hauswirtschaft und Verwaltung kümmert, die den Reis zählt... . Mathematik, ist also zu erst einmal das Denken von Frauen.

Wie gesagt: es gibt andere Sichtweisen. Für viel Aufsehen hat vor nicht allzu langer Zeit Brittany Marshall gesorgt, eine schwarze Doktorandin der Rutgers University, als sie auf Twitter schrieb:

Nope the idea of 2+2 equaling 4 is cultural
and because of western imperialism/colonization, we think of it
as the only way of knowing.

(Nein, die Vorstellung 2+2 = 4 is kulturell. Wegen des westlichen Imperialismus halten wir sie für die einzige Möglichkeit des Denkens.)

Sie erntete zwar Widerspruch, aber eben auch viel Unterstützung. Laurie Rubel, eine Professorin für Mathematik-Didaktik am Brooklyn College schrieb:

2+2=4 reeks of white supremacist patriarchy.

(2+2=4 stinkt nach weißem rassistisch-überheblichem Patriarchat.)

Es gibt in den USA schon länger eine Auseinandersetzung, ob nicht der College-Unterricht auf Algebra verzichten sollte: Say Goodbye To X+Y: Should Community Colleges Abolish Algebra? (Verabschieden wir uns von X+Y: Sollten die Community Colleges Algebra abschaffen?), ein Rundfunk-Kommentar 2017 im NPR. (https://n.pr/2QMzueo, von Kayla Lattimore and Julie Depenbrock).

Man muss hier leider feststellen: Das woke Denken der USA, der "Zeitgeist", entlarvt sich als sexistisch und rassistisch. Frauen brauchen keine Algebra, Schwarze brauchen keine Algebra. Es sind nur die alten, weißen Männer, die sich für Algebra begeistern können. Glücklicherweise Luise auch!