Quelle: FAZ.NET: Physik & Chemie.

Ein Molekül ohne Rückseite


von Manfred Lindinger

18. Dezember 2003 Möbiusbänder, jene dreidimensionalen Gebilde, bei denen man nicht zwischen Vorder- und Rückseite unterscheiden kann, faszinieren nicht nur Architekten und Künstler. Sie haben auch schon so manche Chemiker inspiriert. Doch waren bislang alle Versuche vergeblich, Moleküle herzustellen, die wie solche in sich verdrillte Schlaufen aufgebaut sind. Jetzt ist Forschern von der Universität Kiel und vom Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart das Kunststück erstmals gelungen.

Das vom Mathematiker und Astronomen August Ferdinand Möbius (1790 - 1868) ersonnene Gebilde kann jeder selbst schnell basteln. Man muß lediglich einen längeren Papierstreifen entlang der Längsachse um 180 Grad drehen und dann die beiden Enden zusammenkleben. Setzt man nun einen Stift an und fährt das Band entlang, wird man sofort feststellen, daß es weder Vorder- noch Rückseite hat. Anschaulich dargestellt hat die überraschende Eigenschaft Maurits C. Escher in einem Holzstich: Sechs Ameisen krabbeln endlos auf einem Möbiusband hintereinander her.

Reizvolle Verbindung

Die verwundene Konstruktion übt auch auf Chemiker schon lange einen Reiz aus. Vor knapp vierzig Jahren berechnete Edgar Heilbronner, welche Eigenschaften eine stabile Kohlenwasserstoff-Verbindung haben müßte, wenn sie wie ein Möbiusband in sich verdrillt wäre. Ausgehend von seinen Arbeiten sind eine Reihe von Molekülen ersonnen worden. Dabei hat man von Anfang an vor allem auf die aromatischen Kohlenwasserstoffe gesetzt. Die ringförmigen Moleküle, deren bekanntester Vertreter das Benzol ist, sind besonders stabil. Das verdanken sie den sogenannten pi-Elektronen, die bei einem Aromaten über den ganzen Ring verteilt sind.

Alle Versuche, molekulare Möbiusbänder im Chemielabor zu bauen, blieben jedoch bislang erfolglos. Denn Moleküle sind üblicherweise recht flexibel. Sie weichen einer Verdrillung dadurch aus, daß sie ihre Atome neu anordnen. Die Wissenschaftler um Rainer Herges mußten deshalb alle Register der Experimentierkunst ziehen, um die Natur auszutricksen. Anstatt mit einer einzigen Substanz zu starten und dieser die Windung aufzuzwingen, bauten sie ihr Möbius-Molekül aus zwei verschiedenen Kohlenwasserstoff-Verbindungen - einem elastischen, leiterförmigen Molekül und einem eher starren Molekül aus fünf aromatischen Ringen. Letzteres sollte verhindern, daß sich das verdrillte Endprodukt wieder entwindet.

Struktur erzeugt

Beide Anfangsprodukte vermischten die Forscher in einer Benzollösung und bestrahlten das Ganze mit dem Licht einer Quecksilberdampflampe, was die nötige Aktivierungsenergie für die Reaktion lieferte. Unter den Reaktionsprodukten fand sich schließlich eine Verbindung, die jene stabile verdrillte Topologie eines Möbiusbandes aufwies. Das bestätigten die anschließenden Untersuchungen mit der Kernspinresonanz und der Röntgenstrukturanalyse. Offenbar hatte sich während der Reaktion der zentrale aromatische Ring der starren Ausgangssubstanz geöffnet. An den losen Enden konnte das elastische Molekül andocken und einen größeren Ring formen, der in einem Fall tatsächlich in sich verwunden war, wie die Forscher in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Nature" (Bd. 426, S. 819) berichten.


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