6. Die Fundamentalgruppe des Kreises
Stetige Abbildungen S1 → S1
Im Folgenden betrachten wir genauer den topologischen Raum
S1, also den Einheitskreis. Meist empfiehlt sich daran zu denken, dass S1 aus dem Einheitsintervall I = [0,1]
durch Identifikation von 0 und 1 entsteht. Die entsprechende
Quotientenabbildung I → I/{0~1} bezeichnen wir, falls
notwendig, mit p.
Lemma. Definiere e: R → S1 durch e(t) =
exp(2πit) für t ∈ R. Sei f: I → S1
eine stetige Abbildung. Sei f(0) = s. Zu jedem r ∈ R mit e(r) = s
gibt es genau eine stetige Abbildung
F: I → R mit f = eF und F(0) = r.
Man nennt F die Hochhebung von f mit Anfangspunkt r.
Zusatz: Ist F eine Hochhebung (mit Anfangspunkt r),
so ist auch F+z mit z ∈ Z eine Hochhebung (mit Anfangspunkt r+z),
und man erhält alle Hochhebungen auf diese Weise.
(Dabei steht F+z
für die Abbildung (F+z)(t) = F(t)+z.)
Beweis: Ist f nicht surjektiv, so ist die Behauptung klar.
(Denn liegt der Punkt y von S1 nicht im Bild von f,
so ist f eine Abbildung I → S1\{y}. Das Urbild von
S1\{y} unter e ist eine abzählbare Vereinigung
offener disjunkter Intervalle, die jeweils homöomorph auf
S1\{y} abgebildet werden ...)
Im Allgemeinen sucht man eine natürliche Zahl k,
so dass die Bilder der Intervalle [(i-1)/k,i/k] mit 1 ≤ i ≤ k
unter f auf echte Teilmengen von S1 abgebildet werden.
(Nimm eine offene Überdeckung {U1, U2}
von S1 durch zwei echte Teilmengen, und betrachte
{f-1(U1),f-1(U2)}. Dies
ist eine offene Überdeckung von I, also gibt es dazu eine
Lebesgue-Zahl δ (siehe Kapitel 2). Sei k eine natürliche
Zahl > 1/δ.)
Nun definiert man induktiv die Einschränkungen
Fi = F|[(i-1)/k,i/k], und zwar als Hochhebungen von
fi = f|[(i-1)/k,i/k]: Es sei
F1 die Hochhebung von
f1 mit Anfangspunkt r. Ist schon
Fi definiert, so sei Fi+1 die
Hochhebung von fi+1 mit Anfangspunkt Fi(i/k).
Da nach Konstruktion der Endpunkt von Fi mit dem
Anfangspunkt von Fi+1 übereinstimmt, erhalten wir
insgesamt eine stetige Abbildung F:I → R, und offensichtlich
ist dies auch die einzige Hochhebung von f mit Anfangspunkt r.
Folgerung: Sei s: S1 → S1 stetig.
Sei p: I → I/{0~1} = S1 die Quotientenabbildung,
und sei F eine Hochhebung
der stetigen Abbildung sp. Setze d(s) = F(1)-F(0). Dies ist eine
ganze Zahl, die nicht von F abhängt, man nennt sie den
Abbildungsgrad von s (oder auch die Windungszahl).
Eigenschaften des Abbildungsgrads:
- Die Potenzfunktion zn ist eine stetige Funktion
S1 → S1. Ihr Abbildungsgrad ist
d(zn) = n.
- Ist f: S1 → S1 stetig und nicht surjektiv,
so ist d(f) = 0.
- Sind f,g: S1 → S1 stetige Abbildungen,
so ist d(fg) = d(f) + d(g) und d(f/g) = d(f) - d(g).
(Dabei ist (fg)(x) = f(x)g(x), (f/g)(x) = f(x)/g(x), und zwar
fassen wir S1 als Menge der komplexen Zahlen mit Betrag 1 auf und verwenden die Multiplikation komplexer Zahlen.)
- Wichtig:
Homotope Schlingen haben den gleichen Abbildungsgrad.
Ist f: S1×I → S1 stetig mit
f(0,t) = f(1,t) für alle t, so haben
alle Abbildungen f|S1×{t} den gleichen Abbildungsgrad
Beweis: Wir setzen ft(x) = f(x,t) und erhalten auf diese
Weise für jedes 0 ≤ t ≤ 1 eine stetige Abbildung
ft: S1 → S1.
Wir fassen S1 als Menge der komplexen Zahlen mit Betrag 1 auf. Wähle eine natürliche Zahl n mit folgender
Eigenschaft: Sind t,t' ∈ I mit |t-t'| ≤ 1/n, so ist
|f(x,t)-f(x,t')| < 1. (Verwende die gleichmäßige Stetigkeit
von f.) Multiplizieren wir f(x,t)-f(x,t') mit f(x,t')-1,
so erhalten wir |f(x,t)/f(x,t') - 1| < 1. Wir sehen also, dass die
Funktion ft/ft': S1 → S1
nicht surjektiv ist, also den Abbildungsgrad 0 hat. Demnach ist
d(ft) = d(ft'). Insbesondere sieht man durch
Induktion, dass gilt: d(f0) = d(ft) für t = i/n
für i=1,...,n.
Satz 5. Die Fundamentalgruppe der S1 bezüglich
eines beliebigen Basispunkts ist Z.
|
Genauer: Der Abbildungsgrad d liefert einen Gruppen-Isomorphismus
d : π(S1,x0) → (Z,+).
Dabei ist x0 ein beliebiger Basispunkt in S1.
|
Beweis: d ist eine Abbildung Ω(S1,x0)
→ Z. Diese Abbildung ist surjektiv wegen 1. In 4. steht,
dass homotope Schlingen, also erst recht homotope Schleifen
den gleichen Abbildungsgrad haben. Also
liefert d eine Abbildung π1(S1,x0)
→ Z, die wir ebenfalls mit d bezeichnen.
(Es sei daran erinnert, dass Schleifen Schlingen mit
dem vorgegebenen Basispunkt x0 sind und dass
Homotopien von Schleifen spezielle Homotopien von Schlingen sind,
nämlich solche, die den Basispunkt fixieren.)
Diese Abbildung ist ein Gruppen-Homomorphismus. Es seien
f,g zwei Schleifen, und wir fassen f,g als Abbildungen I →
S1 (mit f(0) = f(1) und g(0) = g(1)) auf.
Wir wählen zuerst eine beliebige Hochhebung F: I → Z,
dann eine Hochhebung G : I → Z mit G(0) = F(1).
Dann ist F*G eine Hochhebung von f*g, und offensichtlich ist
(F*G)(0) = F(0) und (F*G)(1) = G(1), also
d(f*g) = (F*G)(1) - (F*G)(0) = G(1) - F(0) =
G(1) - G(0) + F(1) - F(0) = d(f) + d(g).
Die Abbildung d:π1(S1,x0)
→ Z ist injektiv. Denn ist f ∈
Ω(S1,x0) mit d(f) = 0
und betrachten wir eine Hochhebung F von f, so ist dies selbst
eine Schlinge (eben wegen d(f) = 0). Die Abbildung
F: S1 → R ist homotop zur konstanten
Abbildung mit Bild F(x0), und zwar gibt es eine
Homotopie H: S1×I → R, die
den Basispunkt x0 fixiert. Die Hintereinanderschaltung
von H mit der Abbildung e: R → S1 liefert
eine basispunkterhaltende Homotopie von f zur trivialen Schleife.
Insbesondere haben wir gezeigt:
- Haben zwei Schleifen in S1 mit Basispunkt x0
den gleichen Abbildungsgrad, so sind sie punktiert-homotop.
- Haben zwei Schlingen in S1
den gleichen Abbildungsgrad, so sind sie (frei)
homotop.
Anwendungen
Beispiel A. Die identische Abbildung f: S1 → S1 (also f(x) = x für alle x)
hat Abbildungsgrad 1.
Folgerung A:
S1 ist kein Retrakt von D2.
Das heißt: Es gibt keine stetige Abbildung D2 → S1 mit f(y) = y für alle y ∈ S1.
(Sei Y ein Unterraum von X und r: X → Y stetig mit
f(y) = y, so nennt man Y einen Retrakt von X und die
Abbildung r eine Retraktion.)
Folgerung A' (Brower'scher Fixpunktsatz): Jede stetige Abbildung
D2 → D2 hat mindestens einen Fixpunkt.
(Analog gilt: Jede stetige Abbildung
Dn → Dn hat mindestens einen Fixpunkt.
Beweis später.)
Beweis: Angenommen, f: D2 → D2 ist stetig
und hat keinen Fixpunkt. Für x ∈ D2 betrachte den Strahl von
f(x) in Richtung x, sei g(x) der Schnittpunkt dieses Strahls mit dem
Einheitskreis. Dann ist g: D2 → S1 eine Retraktion.
Widerspruch.
Beispiel B. Ist F : D2 → S1
stetig, so hat F|S1 den Abbildungsgrad 0.
(Dabei fassen wir S1 als Rand von D2 auf.)
Beweis: Sei G : S1 → I → D2
durch G(x,t) = (1-t)x definiert. (Dabei fassen wir x ∈ S1
als Element von R2 auf.)
Die Hintereinanderschaltung
FG : S1→ I → S1 ist eine
Homotopie zwischen (FG)0 = F0 = F|S1
und der konstanten Abbildung (FG)1, die S1 auf
F((0,0)) abbildet.
(Anders formuliert: Da die Abbildung F|S1 eine stetige
Fortsetzung auf D2 besitzt, ist
F|S1 homotop zur konstanten Abbildung.)
Beispiel C. Eine stetige Abbildung f: S1 → S1 mit f(-x) = -f(x) hat ungeraden Abbildungsgrad.
Beweis: Sei F: R → R mit eF = fe. Es ist
F(t+1/2) = F(t)+1/2 + kt mit kt ∈ Z.
Wegen der Stetigkeit ist kt = k (unabhängig von t).
Wir haben demnach: F(t+1/2) - F(t) = 1/2+k.
Also ist d(f) = F(1) - F(0) = F(1)-F(1/2) + F(1/2)-F(0) = 1+2k.
Folgerung C: Es gibt keine stetige Abbildung f: D2 → S1 mit f(-x) = -f(x) für alle x ∈ S1.
Beweis: Die Einschränkung f' auf S1 hätte
einerseits ungeraden Abbildungsgrad. Andererseits besitzt f' eine
Fortsetzung auf D2 und hat demnach Abbildungsgrad 0, siehe
Beispiel B. Widerspruch.
Folgerung C' (Satz von Borsuk-Ulam): Jede stetige Abbildung
g: S2 → R2 mit g(-x) = -g(x) hat eine
Nullstelle.
Wenn nicht, so definiere g': S2 → S1
durch g'(x)=g(x)/|g(x)|. Es gilt g'(-x) = -g'(x) für alle x.
Die Einschränkung f von g' auf die abgeschlossene untere Halbkugel
kann interpretiert werden als
stetige Abbildung f: D2 → S1 mit f(-x) = -f(x) für alle x ∈ S1, im Widerspruch zur Folgerung C.
Folgerung C'': Ist h: S2 → R2 stetig,
so gibt es
x ∈ S2 mit h(-x) = h(x).
Beweis: Setze g(x) = h(x)-h(-x). Es ist g(-x) = -g(x). Nach dem Satz von
Borsuk-Ulam hat g eine Nullstelle.
Folgerung C''' (Invarianz der Dimension): Eine offene Teilmenge des R2 ist nicht homöomorph zu einer offenen Teilmenge
des Rn mit n > 2.
Beweis (eine der Übungsaufgaben!):
Sei U offene Teilmenge des R2 und U' offene
Teilmenge des Rn mit n > 2. Angenommen, es gibt einen
Homöomorphismus h: U' →
U. In U' gibt es eine S2 als Unterraum; unter h wird diese
S2 injektiv in den R2 eingebettet; dies ist nicht möglich.
Folgerung C''''(Satz vom Schinkenbrot). (siehe Ossa 1.5.14)