Ein Zitat

Mitte April 2007 erschien folgendes Zitat auf der Homepage von BIREP:
Frage: Ist in der Mathematik eigentlich nicht schon alles erforscht?

Antwort: In der Linearen Algebra von endlichdimensionalen Vektorräumen ist in der Tat alles erforscht.

(G. Ziegler, in einem Interview für das Buch: "Ein Moment für Mensch und Mathematik"; Ziegler ist z.Z. Vorsitzender der DMV.)

E-mails

E-mail vom 20 Apr 2007:

Sehr geehrter Herr Ringel,

ein Freund aus Bonn hat mich auf das Zitat von mir hingewiesen, das Sie so prominent auf http://www.math.uni-bielefeld.de/~sek/ gesetzt haben ... Das war natürlich in der Interview-Eile von mir zu kurz gegriffen und hätte viel eher heißen sollen "Nicht einmal in der Linearen Algebra von endlichdimensionalen Vektorräumen ist alles erforscht." (mea culpa! ich weiß das besser...) und ist ansonsten auch aus dem Kontext gegriffen.

Wenn Sie's aber weiter einfach so als "Stein des Anstoßes" auf der Homepage halten wollen (und dafür eignet es sich ja gut): gerne!

Mit herzlichen Grüßen, Ihr Günter M. Ziegler


Antwort, 20 Apr 2007:

Lieber Herr Ziegler,

ich hatte eigentlich vor, mich bei Ihnen zu melden um nachzufragen, wie Sie auf eine derartige Formulierung gekommen sind, habe dies aber aus Zeitgruenden immer wieder verschoben. Nun sind Sie mir zuvorgekommen. Ich war ziemlich entsetzt, als ich den genannten Satz las - aber auch den darauf folgenden, doch spielt fuer unsere Arbeitsgruppe zuerst einmal nur der zitierte Satz eine Rolle: wir waeren ja arbeitslos, wenn Sie recht gehabt haetten. Und das betrifft auch viele andere Arbeitsgruppen (man denke nur an das Klassifikationsproblem fuer Vektorbuendel ueber projektiven Raeumen, aber auch an Teile der numerischen linearen Algebra, usw).

Leider vermitteln fast alle Buecher zur LA (und moeglicherweise auch die entsprechenden Vorlesungen?) den voellig irrefuehrenden Eindruck, dass es sich hier um eine abgeschlossene Theorie handelt - und das, obwohl nicht einmal das Wissen Kroneckers (Klassifikation der Matrizenbueschel, sehr wichtig fuer das Loesen von Differentialgleichungen, siehe Gantmacher) oder Dedekinds (Struktur des freien modularen Verbands in 3 Erzeugenden) vermittelt wird, geschweige denn das, was etwa Gelfand und Ponomarev in den 60er Jahren erreicht haben (Paare sich annullierender Operatoren, Loesung des Vierunterraumproblems,...).

Gabriel hat schon vor langer Zeit betont, dass man die Kategorie der endlich-dimensionalen Vektorraeume sich so vorstellen sollte: Objekte sind die natuerlichen Zahlen, Morphismen sind die nxm-Matrizen (in der Sprache der Kategorientheorie: das "Geruest"); in dieser Weise ist die LA etwas, was man heute gerne "Kategorifizierung der natuerlichen Zahlen" nennt, und damit eine nicht-kommutative Version der natuerlichen Zahlen. Dieser Gesichtspunkt ist bisher noch gar nicht ausgereizt, bildet aber einen Ausgangspunkt fuer viele Aspekte der "nicht-kommutativen Geometrie" (man denke nur an die Quantenzahlen, definiert durch Gauss-Polynome, und viele andere q-Phaenomene).

Selbst Ihre Neuformulierung: Nicht einmal in der Linearen Algebra von endlichdimensionalen Vektorraeumen ist alles erforscht. erscheint mir viel zu schwach! Im Gegensatz etwa zur Zahlentheorie, wo schon durch Euler und spaestens Gauss ziemlich alle elementaren Fragen abschliessend behandelt wurden, gibt es zum Beispiel in der Darstellungstheorie endlich-dimensionaler Algebren (und was ist dies anderes als LA?) Unmengen an ganz einfach formulierbaren, aber voellig unerforschten Fragen, an denen sich auch schon ein Student die Zaehne ausbeissen kann... Um wenigestens ein Beispiel explizit zu erwaehnen, moechte ich auf die (Einleitung zur) Arbeit "Invariant subspaces of nilpotent operators" verweisen, die im Crelle Journal erscheinen wird (ArXiv math.RT/0608666).

Gruss Ihr C.M.Ringel


21 Apr 2007:

Lieber Herr Ringel,

meines Erachtens ist das eine Debatte, die man durchaus mal öffentlich führen sollte --- und Ihre Antwort ist ja schon ein halber Beitrag etwa für die "DMV-Mitteilungen" ... weswegen ich auch Cc an den Herausgeber, Hern Schulze-Pillot, anfüge. Ich will selbst auch lesen/lernen: Die Einleitung (ersten 10 Seiten) Ihrer Arbeit sind auf dem Weg zum Laserdrucker...

Ich selbst habe die "Lineare Algebra" ja nach dem Buch von Fischer gelernt und auch gelehrt - da sieht die Lineare Algebra eben sehr (zu sehr) "abgeschlossen" aus. Insofern finde ich den Hinweis und die Illustration dazu(!), dass das eben nicht so ist, schon sehr wichtig. Das muss und sollte konkret sein ("abstrakt" ist natürlich ist keine Theorie, die die natürlichen Zahlen enthält, je "abgeschlossen").

Wollen Sie sich der Herausforderung mal stellen? Ich glaube, das wäre wichtig.

Ich würde mich auch gerne mal in Ruhe mit Ihnen darüber unterhalten. (Im Moment bin ich leider mit Mathematikjahr etc. sehr eingespannt.) Noch ein Vorschlag: Wären Sie bereit, im Kolloquium der Berlin Mathematical School http://www.math-berlin.de/bms-fridays/ im Herbst mal vorzutragen, etwa über "Basic and not so basic linear Algebra"? Wir könnten eine Diskussion daran anschließen....

Herzliche Grüße,
Ihr Günter M. Ziegler


Meine Antwort am 23 Apr 2007

Lieber Herr Ziegler,

On Sat, 21 Apr 2007, Guenter M. Ziegler wrote:

> Wollen Sie sich der Herausforderung mal stellen?

Natuerlich!

Gruss               Ihr C.M.Ringel


Am gleichen Tag (23 Apr 2007) erreichte mich allerdings auch folgende E-mail:

Lieber Herr Ringel,

> CMR> erscheint mir viel zu schwach! Im Gegensatz etwa zur
> CMR> Zahlentheorie, wo schon durch Euler und spaestens Gauss ziemlich
> CMR> alle elementaren Fragen abschliessend behandelt wurden, gibt

damit treten Sie jetzt aber bei mir recht heftig in den Fettnapf. Ich verzichte auf eine Auflistung der durch Gauss und Euler noch nicht abschliessend behandelten elementaren zahlentheoretischen Fragen (ich muss gleich in die Vorlesung) und versichere nur pauschal, dass es da auch noch vieles zu beantworten gibt.

Wahrscheinlich ist so ziemlich jeder Versuch, ein (fremdes) mathematisches Gebiet als "abgeschlossen" zu markieren, zum Scheitern verurteilt.

Ansosnsten sehe ich der oeffentlichen Debatte gerne entgegen, die Mitteilungen koennen inhaltliche Debatten gut gebrauchen!

Herzlichen Gruss
Ihr
Rainer Schulze-Pillot


BIREP
Last modified: Sat Jan 19 16:30:19 CET 2008