Aus dem VORWORT DER HERAUSGEBER
der Opera Omnia

Der vorliegende Band sollte ursprünglich an den Schluss der dritten Serie zu stehen kommen, eine genauere Untersuchung seines Inhaltes zeigte aber, dass das nicht wohl anging. Denn ein erheblicher Teil der Abhandlungen schliesst sich unmittelbar an den Inhalt des ersten Bandes an, in dem die Grundlagen der Physik behandelt werden. Die Bedeutung dieser Arbeiten EULERs ist erst in neuester Zeit wieder erkannt worden und so rechtfertigt sich das Vorrücken dieses Bandes an die zweite Stelle der dritten Serie. Glücklicherweise bilden die Werke, die hier gesammelt sind, doch in gewissem Sinne ein Ganzes. Zunächst der Sprache nach, indem sie in der Hauptsache deutsch verfasst sind. Sodann zeichnen sie sich alle durch die leichte Verständlichkeit aus und sie bilden in ihrer Gesamtheit einen Lesestoff, der sich vorzüglich für die Behandlung auf der Schule eignet.

Die Bearbeitung der Rechenkunst hat KARL MATTER übernommen. ...

Wir beginnen mit der von KARL MATTER verfassten Besprechung der Rechenkunst.

LEONHARD EULER hat gegen Ende seines ersten St. Petersburger Aufenthalts für die russischen Schulen ein elementares Rechenbuch geschrieben, das all die eigenartigen, grossen Vorzüge eines gottbegnadeten Lehrers besitzt. So rechtfertigt die besondere pädagogische Bedeutung dieses in seiner Art einzigen Lehrbuches der Anfangsgründe der Arithmetik voll und ganz seine Aufnahme in die Gesamtausgabe der Arbeiten EULERS.

Diese

"Einleitung zur Rechen-Kunst",

die hier getreu nach dem in zwei Teilen vorliegenden Original von 1738 und 1740 herausgegeben wird, trägt dort keinen Verfassernamen. Dass das Buch aber ein unverkennbarer, echter EULER ist wird dem Kenner seines Werks zur Evidenz aus der bewunderungswürdigen, vorbildlichen, ihm allein eigenen Klarheit des Aufbaues und der ganzen Entwicklung des Gegenstandes, die jeden aufmerksamen Leser ohne die geringste Voraussetzung zum vollen Verständnis des Vorgetragenen führen und zur vollständigen Beherrschung dieser Rechenkunst befähigen muss. In diesem Zusammenhang sei aber auch auf eine die "Rechenkunst" berührende Stelle in der Lobrede von NICOLAUS FUSS, des intimen Kenners und getreuen Famulus der letzten zehn Jahre, auf LEONHARD EULER hingewiesen. Dort äussert sich der Mitarbeiter und zuverlässigste Schüler EULERS folgendermassen (Seite LX im 1. Band dieser Gesamtausgabe): »Schon vor der Bekanntmachung dieses Werks« — es handelt sich um das Buch 'Tentamen novae theoriae musicae', das im Jahre 1739 erschienen war — »hatte Herr EULER eine Anleitung zur gemeinen Rechenkunst herausgegeben. Verschiedene Akademiker hatten sich nämlich auf Verlangen des Präsidenten anheischig gemacht, Handbücher zum Unterrichte der Jugend zu verfertigen, und der grösste Analyste glaubte sich nicht durch eine Arbeit zu erniedrigen, die zwar weit unter seinen Kräften war, die aber der Zweck adelte, zu dem man sie bestimmte.«

Um 1738 und 1740, da EULERS »Einleitung zur Rechenkunst« erschien, gab es keine einheitliche deutsche Sprache. Der Leipziger Literaturgewaltige, Professor GOTTSCHED, der eine solche anstrebte und eine deutsche Grammatik oder "Sprachkunst", wie er sie nannte, schrieb, die nach WILHELM SCHERER »in vielen Dingen die Sprachregel festsetzte, wie sie uns geblieben ist«, stand freilich um jene Zeit auf dem Höhepunkt seines Ansehens, war aber trotzdem nicht Autorität genug, um überall durchzudringen.


Das urtümliche, kräftige Deutsch EULERS, das hier im wesentlichen, vor allem im Satzbau, getreu nach dem Original wiedergegeben wird, mutet uns heute noch ganz vertraut und fast heimatlich an. Ganz bestimmt erhöht es den Reiz des Buches. Zur Erleichterung der Lesbarkeit sind lediglich kleinere Veränderungen in der Orthographie im Sinne einer Anpassung an die heutige da vorgenommen worden, wo die Schreibweise zu fremdartig oder gar störend berührte. So ist das y in seyn, drey etc. durch ein einfaches i, das ck nach Konsonanten durch ein einfaches k, das tz nach Konsonanten durch ein einfaches z ersetzt worden, und ähnliches mehr, wie etwa "deutsch" statt "teutsch", "Erkenntnis" statt Erkäntnüss" etc. Im übrigen sind bloss gewisse orthographische Inkonsequenzen des Originals wie auch solche in den Satzzeichen ausgeglichen worden. Natürlich sind sämtliche Rechenbeispiele sorgfältig nachgeprüft und hin und wieder eingeschlichene Fehler stillschweigend verbessert worden.

Es ist gewiss nicht unangebracht, hier kurz auf ein paar Besonderheiten und Abweichungen vom heutigen Sprachgebrauch in diesem EULERschen Rechenbuch hinzuweisen. Das Wort "Ziffern" bedeutet bei EULER ausschliesslich Nullen. Es wird im Original abwechselnd bald in der heutigen Schreibweise, bald in der älteren, "Cyphren", gebraucht. Was wir heute unter dem Begriff "Ziffern" verstehen, wird in unserem Rechenbuch konsequent mit "Characteres", — in der Einzahl "Character" —, oder "Figuren" bezeichnet. Während wir heute ausschliesslich "mit einer Zahl multiplizieren" wird bei EULER abwechselnd "durch eine Zahl multipliziert"; oder "mit einer Zahl multipliziert". In der Darstellung der Multiplikation wird im vorliegenden Rechenbuch durchwegs die ältere Methode angewendet, indem der Multiplikator ohne besonderes Multiplikationszeichen derart unter den Multiplikanden gestellt wird, dass die gleichen Einheiten schön übereinander zu stehen kommen, was für die Übersichtlichkeit besondere Vorteile hat. Analog wird auch die Division in der älteren Weise dargestellt. Der Divisor wird ohne besonderes Operationszeichen links neben den Dividenden gestellt, das Resultat, der Quotient oder "Quotus", wie er hier meist genannt wird, rechts, beide durch Schleifen von ihm getrennt. "Brüche kürzen" heisst hier "Brüche aufheben" was uns ja auch noch vertraut sein wird, dagegen entspricht unserem Begriff "erweitern" das Verbum "reduciren".

Da die Herausgabe des Gesamtwerks LEONHARD EULERs durch die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft ein internationales Unternehmen ist, das nur durch das Zusammenwirken aller Kulturnationen möglich geworden ist, so darf ich nicht unterlassen, der Einteilung und Bezeichnung der höheren dekadischen Einheiten in Kapitel 1 des ersten Teils dieser Einführung in die Arithmetik eine erklärende Bemerkung beizufügen. Hier wird nach der in der Mehrzahl der Länder üblichen sogenannten "deutschen Regel" die zu lesende Zahl von den Einern aus in Gruppen von je 6 Stellen eingeteilt, derart, dass 106 eine Million, 1012 eine Billion, 1018 eine Trillion, 1024 eine Quadrillion etc. bedeuten, während nach der in den romanischen Ländern Frankreich, Italien etc. gebräuchlichen sogenannten "lateinischen Regel", wo in Gruppen von je nur 3 Stellen eingeteilt wird, eine Billion etwas ganz anderes, nämlich 109 oder eine Milliarde bedeutet, und 1012 bereits eine Trillion, 1015 eine Quadrillion heisst, etc. Genaueres über diese Zusammenhänge findet man in dem Buche "Le Développernent de la Notion de Nombre" von Universitätsprofessor L.-G. Du PASQUIER, Neuchâtel und Paris 1921. Es wäre sehr zu wünschen und ausserordentlich zu begrüssen, dass es den gut fundierten Bemühungen Professor Du PASQUIERs gelingen möchte, in diesem Punkte eine internationale Verständigung zu erzielen.

LEONHARD EULER ist in die Geheimnisse der Rechenkunst wie der Mathematik überhaupt von seinem Vater, dem Pfarrer PAUL EULER der Gemeinde Riehen bei Basel, eingeführt worden. Pfarrer PAUL EULER besass selbst eine mathematische Ader, war er doch ein begeisterter Schüler des grossen Mathematikers JACOB BERNOULLI gewesen. Später hat LEONHARD EULER die Lateinschule der Stadt Basel besucht, die aber damals in einem kläglichen Zustande sich befand. Ein mathematischen Lehrbuch gab es auf der Schule nicht. Mit dem Unterricht, nicht nur dem mathematischen, stand es überhaupt derart schlimm, dass Schüler, die weiterkommen wollten, sich Privatlehrer nehmen mussten, die in der Regel junge Studenten waren. Der Privatlehrer von LEONHARD EULER war ein junger Theologe JOHANNES BURCKHARDT, der zugleich ein eifriger Mathematikus war.

Wenn man wissen möchte, wodurch sich EULERs "Einleitung zur Rechenkunst" von andern Lehrbüchern der Arithmetik zeitgenössischer Autoren unterscheidet, so kommt nach der Darstellung von MORITZ CANTOR in seiner Geschichte der Mathematik zum Vergleiche ein einziger Schriftsteller ernstlich in Betracht. Das ist CHRISTLIEB VON CLAUSBERG, mit seinem zweibändigen, umfangreichen Lehrbuch "Demonstrative Rechenkunst", das erstmalig im Jahr 1732 in Leipzig erschien. Von mir wurde dessen fünfte Auflage vom Jahr 1795 eingesehen und mit EULERs Darstellung in der vorliegenden "Rechenkunst" genau verglichen. Es ist natürlich klar, dass die beiden Bücher, so weit sie die gleichen Gegenstände behandeln, in manchem sich ziemlich eng berühren. So fortschrittlich und wissenschaftlich aber CLAUSBERGs Rechenkunst auch sich gibt, so ist doch noch ein grosser Schritt bis zu der durchsichtigen Klarheit und einfachen Leichtverständlichkeit, mit der EULER die gleichen Probleme entwickelt. Im besondern ist EULERs Darstellung der Multiplikation bedeutend einfacher und seine Begründung der Vertauschbarkeit von Multiplikand und Multiplikator wissenschaftlich unanfechtbarer als bei CLAUSBERG. Am stärksten merkt man den grossen pädagogischen Unterschied bei der Vorführung der sogenannten "wälschen Praktik", dem Aufzeigen der grossen Vorteile beim Multiplizieren mit Brüchen durch deren Zerlegung in Stammbrüche.

Man darf mit vollem Recht behaupten, dass EULERS "Rechenkunst" den Vergleich mit unsern heutigen, modernen Lehrbüchern des ersten Rechnens sehr gut verträgt. Denn auch in dieser pädagogischen Arbeit bewährt sich LEONHARD EULER als der glänzende Meister in der Einfachheit und Deutlichkeit der Darstellung, durch die sich seine wissenschaftlichen Werke auszeichnen. Darum bin ich der Meinung, dass unsere Lehrer des ersten Rechnens an diesem klassischen Lehrbuche der Rechenkunst gar nicht vorbeigehen dürfen, weil es auch heute noch ein nie wieder erreichtes Vorbild ist von kristallklarer, für jedermann fasslicher Verständlichkeit.