Universität Bielefeld
50 Jahre
Fakultät für Mathematik
Chronik

Berufsverbote

(Quelle: Ministerialblatt für das Land NRW)

Der „Gemeinsame Runderlass der Ministerpräsidenten und aller Landesminister zur Beschäftigung von rechts- und linksradikalen Personen im öffentlichen Dienst“ vom 18. Februar 1972 (bekannt als „Radikalenerlass“) legte fest, dass Personen, bei denen Zweifel an ihrer Verfassungstreue bestanden, nicht in den öffentlichen Dienst übernommen werden oder dort verbleiben durften. Da einige der Betroffenen ihren erlernten Beruf nur im öffentlichen Dienst (z.B. an Schulen oder Hochschulen, bei der Bahn oder der Post) ausüben konnten, führte der Ausschluss dort faktisch zu einem Berufsverbot. Genauere Informationen, insbesondere zu Hintergrund und Auswirkungen des Erlasses, finden sich z.B. auf der Seite „Radikalenerlass“ der Wikipedia und im Artikel „Der ‚Radikalen-Erlass‘ von 1972“ der Deutsche Welle.

Der von 1971 bis 1977 an der Fakultät für Mathematik als Geschäftsführer des interdisziplinären „Universitätsschwerpunktes (USP) Mathematisierung“ tätige Dr. Bernhelm Booß-Bavnbek (jetzt Emeritus der dänischen Universität Roskilde) schreibt zum Thema „Berufsverbote“:

Anders als in Bielefeld, in Nordrhein-Westfalen und in Deutschland insgesamt, wo das Interesse an einer Aufarbeitung der damaligen hysterischen politischen Hexenjagd gering zu sein scheint, ist in anderen Ländern das deutsche Wort „Berufsverbot“ zur Metapher für politische Verfolgung und Überwachung von Gesinnung am Arbeitsplatz geworden, auch in den modernen Formen von Rechtlosigkeit z.B. bei losen Arbeitsverträgen und Voreingenommenheit gegenüber Migranten.

Für eine neue Generation von Studenten, Hochschullehrern und ausländischen Forschungsgästen (deshalb die Wahl des Englischen) der Bielefelder Fakultät für Mathematik schildere ich im Folgenden, welche Erfahrungen ich in Bielefeld gemacht habe. Als Mathematiker suche ich nach einer Erklärung für die absurde Härte, mit der die westdeutsche Staatsmacht damals in Bielefeld, unberührt von Einsprüchen der Fakultät und der Universität, gegen mich und eine Handvoll von anderen Mathematikerinnen, Mathematiklehrerinnen, Mathematikhistorikerinnen und Mathematik-Erziehungswissenschaftlerinnen vorging, die es z.B. öffentlich gewagt hatten, auf positive Seiten im Bildungssystem der DDR oder in der Kommunalpolitik von westdeutschen Kommunisten aufmerksam zu machen oder sonstwie mit systemkritischen Bemerkungen aufgefallen waren.

Im Rückblick finde ich nicht die "Schicksale" der Betroffenen so bewegend, sondern, auch wieder als Mathematiker, eher den Konflikt zwischen gesellschaftlichen und formalen Aspekten interessant und die Unverfrorenheit, mit der man damals von Seiten der Bundes- und Landesregierung ‐ und Teilen der Öffentlichkeit ‐ meinte, auf die Einhaltung von zivilisatorischen Formalia gegenüber jeweiligen Minderheiten (und damit gegen alle) verzichten zu können.

B. Booß-Bavnbek, Kopenhagen im Sommer 2019

Die angekündigte detailliertere Betrachtung der Berufsverbote in ihrem politischen Kontext an der Fakultät für Mathematik in Bielefeld liefert Booß-Bavnbek im folgenden englischsprachigen Beitrag:

The Formal and the Societal

Explaining the negative climate around some mathematicians, mathematics teachers, historians of mathematics and researchers of mathematics education in Bielefeld in the 1970s

I am a mathematician, born in Germany and graduated from Bonn University. I have worked in Denmark for 40 years. I shall explain features of system control and political suppression that I experienced as a young scientist of Bielefeld University before I left the Faculty of Mathematics back in the 1970s after being subjected to the “Berufsverbot“.

...

[Der vollständige Beitrag findet sich in der pdf-Datei Bernhelm Booss - Bielefeld in the 1970s.pdf.]

Auch der von 1971 bis 1974 an der Fakultät für Mathematik tätige Prof. Dr. Klaus Krickeberg wurde -fälschlicherweise- als Betroffener der Berufsverbote genannt. Er schreibt dazu:

Die damalige Hysterie um den 'Radikalenerlass' hat auch mich erreicht, obwohl ich, anders als Bernhelm Booß, offiziell gar nicht davon betroffen war.

Aus den in meinem Beitrag zum Teil 'Mathematisierung der Einzelwissenschaften' beschriebenen Gründen hatte ich um meine Entlassung aus dem Beamtendienst an der Universität Bielefeld gebeten. Einige Zeit nachdem die Regierung meine Entlassung genehmigt hatte, erschien ein Aufruf, vom Berufsverbot betroffenen Leuten durch Vermittlung von Nachhilfestunden und dergleichen zu helfen. Ich unterschrieb ihn, dann rief mich der 'Spiegel' an, ob das stimme, ich bestätigte es, es erschien im 'Spiegel', und daraufhin kam eine Anfrage im Landtag, was die Regierung dazu sage. Antwort des damaligen Wissenschaftsministers Johannes Rau: 'Ich habe ihn bereits entlassen'.

Das stimmte zwar, aber im Grunde war es doch gelogen, denn in dem Zusammenhang mussten die Abgeordneten und die Öffentlichkeit glauben, dass die Entlassung wegen meiner Unterschrift unter den Aufruf erfolgt war. Eine Bielefelder Zeitung schrieb sogar, mir wäre wohl der Boden in Bielefeld zu heiß geworden; sie hielt es offenbar für normal, dass ein Beamter wegen der Unterschrift unter einen solchen Aufruf entlassen werde könnte.

Der Rektor der Universität, Karl Peter Grotemeyer, hat dann auf meine Bitte hin an Rau geschrieben, um das richtig zu stellen, aber eine öffentliche Richtigstellung ist nie erfolgt, weder durch die Universität noch durch die Regierung.

K. Krickeberg