5. Homotopie:  Grundbegriffe

Homotopie

I = [0,1] sei das Einheitsintervall. Sei eine stetige Abbildung H: X ×I → Y gegeben. Man schreibt meist Ht(x) = H(x,t) für x in X und t in I und erhält auf diese Weise eine Familie stetiger Abbildungen Ht: X → Y (die durch die Elemente von I indiziert ist), und man nennt die Abbildungen H0 und H1 homotop (und H eine Homotopie, die H0 mit H1 verbindet).

"Homotop" ist eine Äquivalenzrelation!

Punktierte Räume

Unter einem punktierten Raum versteht man ein Paar (X,x), dabei ist X ein topologischer Raum und x ein Element von X. Man nennt x den Basispunkt von (X,x).
Sind (X,x) und (Y,y) punktierte Räume, so heißt eine stetige Abbildung f: X → Y punktierte Abbildung von (X,x) in (Y,y), wenn f(x) = y ist.

Seien (X,x) und (Y,y) punktierte topologische Räume. Man nennt eine stetige Abbildung H: X ×I → Y eine punktierte Homotopie, falls H(x,t) = y für alle t in I gilt (falls also alle Abbildungen Ht für alle t in I punktiert sind). Ist H eine punktierte Homotopie, so nennt man die Abbildungen H0 und H1 punktiert homotop. Es gilt auch hier: "Punktiert homotop" ist eine Äquivalenzrelation.

Sind (X,x) und (Y,y) punktierte Räume und bildet man die topologische Summe X+Y, so hat diese keinen ausgezeichneten Basispunkt. Dies ändert sich, wenn man in X+Y die Punkte x und y identifiziert (also den zweielementigen Unterraum {x,y} zusammenschlägt): den Raum, den man auf diese Weise erhält, nennt man die punktierte Summe von (X,x) und (Y,y), und man betrachtet ihn als punktierten Raum, dessen Basispunkt die Äquivalenzklasse {x,y} ist. Die punktierte Summe von (X,x) und (Y,y) wird mit (X,x)v(Y,y) bezeichnet.
Entsprechend zur topologischen Summe hat die punktierte Summe die folgende Eigenschaft:


Wege-Homotopie

Zwei Wege u0, u1: I → X mit gleichem Anfangs- und gleichem Endpunkt heißen weg-homotop, falls es eine stetige Abbildung H: I×I → X gibt mit folgenden Eigenschaften (Dabei schreibt man wieder Ht(s) = H(s,t), und man nennt H eine Wege-Homotopie.) (Eine Homotopie H : I×I → X ist also genau dann eine Wege-Homotopie, wenn alle Wege Ht gleichen Anfangs- und gleichen Endpunkt haben.)

Sei X ein topologischer Raum, seien x0, x1 in X. Wir bezeichnen mit Ω(X;x0,x1) die Menge der Wege von x0 nach x1.
Ist u in Ω(X;x0,x1) und v in Ω(X;x1,x2), so sei das Produkt u*v in Ω(X;x0,x2) folgendermaßen definiert:

(Manchmal schreiben wir auch einfach uv statt u*v, wenn dies zu keiner Verwechslung führen kann.) Es werden also die beiden Wege nacheinander durchlaufen, erst der Weg u, dann der Weg v (und zwar beide "mit doppelter Geschwindigkeit"). Man beachte, dass diese Produkt-Bildung nicht assoziativ ist (denn sind u,v,w Wege und ist (u*v)*w definiert, so wird in (u*v)*w der Weg w "mit doppelter Geschwindigkeit" durchlaufen, in u*(v*w) dagegen "mit vierfacher Geschwindigkeit"). Wir werden aber sehen, dass diese Produktbildung zumindest "assoziativ bis auf Homotopie" ist.
Zu u in Ω(X;x0,x1) definieren wir auch den inversen Weg u- in Ω(X;x0,x1) durch
u-(t) = u(1-t).
Der inverse Weg u- hat also das gleiche Bild wie u, geht aber rückwärts, vom Endpunkt von u zum Anfangspunkt von u.
Für jedes x in X bezeichnen wir mit ε(x) den konstanten Weg mit Bild {x}.

Lemma. (a) Sind Wege u in Ω(X;x0,x1), v in Ω(X;x1,x2), w in Ω(X;x2,x3) gegeben, so sind die Wege (u*v)*w und u*(v*w) weg-homotop.
(b) Sei u in Ω(X;x0,x1). Dann gilt: Die drei Wege u, ε(x0)*u und u*ε(x1) sind weg-homotop,
(c) Sei u in Ω(X;x0,x1). Die Wege u*u- und ε(x0) sind weg-homotop.
(d) Sind u, u' in Ω(X;x0,x1) weg-homotop und v, v' in Ω(X;x1,x2) weg-homotop, so sind auch die Wege u*v und u'*v' weg-homotop.


Die Fundamentalgruppe eines punktierten Raums

Sei (X,x0) ein punktierter Raum. Sei Ω(X,x0) = Ω(X;x0,x0). Die Elemente in Ω(X,x0) nennen wir Schleifen in X. (Schleifen sind also spezielle Schlingen, nämlich solche, die am Basispunkt beginnen und enden.) Ist u in Ω(X,x0), so bezeichnen wir mit [u] die punktierte Homotopieklasse von u.

Die Menge der punktierten Homotopieklassen von Schleifen in (X,x0) bezeichnen wir mit π1(X,x0). Sie ist eine Gruppe mit Produkt

[u][v] = [u*v],
und es ist
[u]-1 = [u-].
Man nennt π1(X,x0) die Fundamentalgruppe (oder erste Homotopiegruppe) von (X,x0).

Obwohl π1(X.x) eine multiplikative Gruppe ist, nennt man die zur konstanten Schleife weg-homotopen Schleifen null-homotop (und nicht etwa "eins-homotop").

Funktorialität der Fundamentalgruppe

Sind (X,x) und (Y,y) punktierte Räume und ist f:(X,x) → (Y,y) eine punktierte stetige Abbildung, so induziert f einen Gruppen-Homomorphismus
π1(f) : π1(X,x) → π1(Y,y),
der durch π1(f)([u] = [fu] für u in Ω(X,x) definiert ist. (Dabei bezeichnet fu die Hintereinanderschaltung von u:S1 → (X,x) und f: (X,x) → (Y,y). Dies ist ein Element von Ω(Y,y).)

Es gilt: Wir sehen also: π1 ist ein Funktor von der Kategorie der punktierten topologischen Räume in die Kategorie der Gruppen.

Also gilt: π1 kann auch als Funktor von der Homotopie-Kategorie der punktierten topologischen Räume in die Kategorie der Gruppen aufgefasst werden.

Ist f:(X,x) → (Y,y) eine punktierte stetige Abbildung, so schreibt man meist statt π1(f) einfach f*.

Wechsel des Basis-Punkts

Sei w ein Weg in X von x nach x'. Dann liefert die Zuordnung, die u aus Ω(X,x) auf (w-)*(u*w) in Ω(X,x') abbildet, einen Gruppen-Isomorphismus
w# : π1(X,x) → π1(X,x').
Ist w' ein zweiter Weg von x nach x', so ist w*w' eine Schleife, und die Hintereinanderschaltung von w# und w'# ist ein Automorphismus von π1(X,x).

Ein weg-zusammenhängender topologischer Raum heißt einfach zusammenhängend, wenn seine Fundamentalgruppe π1(X,x) für ein x in X die triviale Gruppe ist. (Wie wir gerade gesehen haben, ist dies unabhängig von der Auswahl des Basispunkts.)

Satz. Seien f,g : (X,x) → (Y,y) punktierte Abbildungen. Sei H eine freie Homotopie von f nach g. Sei w(t) = H(x,t) für t in I. Dann ist w in Ω(X,x), also [w] in π1(X,x), und es gilt für alle u in Ω(X,x):

g*([u]) = [w]-1f*([u])[w].


Deformationsretrakte

Sei A ein Unterraum des topologischen Raums X. Man nennt A einen Retrakt von X, falls es eine stetige Abbildung r:X → A mit r(a) = a für alle a in A gibt.

Sei A ein Unterraum des topologischen Raums X. Man nennt A einen Deformationsretrakt von X, falls es eine stetige Abbildung H : X × I → X gibt mit

  1. H(x,0) = x für alle x in X (also H0 = 1X),
  2. H(x,1) ist in A für alle x in X,
  3. H(a,t) = a für alle a in A und alle t in I.
Wegen 2. und 3. ist H1 eine Retraktion von X auf A; demnach ist H eine Homotopie, die die Identität von X mit einer Retraktion auf A verbindet.
(Verlangt man nur die letzte Aussage, dass es eine Homotopie gibt, die die Identität von X mit einer Retraktion auf A verbindet, so nennen wir A einen schwachen Deformationsretrakt von X. In manchen Büchern werden dagegen unsere Deformationsretrakte "starke Deformationsretrakte" und unsere schwachen Deformationsretrakte einfach "Deformationsretrakte" genannt.).

Beispiele