8. Die singuläre Homologiegruppe H1(X)

Ist M eine Menge, so bezeichnen wir mit Z[M] die freie abelsche Gruppe mit Basis M.

Wir betrachten nun einen topologischen Raum X und bezeichnen mit Top(Δn,X) die Menge der stetigen Abbildungen Δn → X. Wir setzen

Cn(X) = Z[Top(Δn,X)].
Man nennt dies die Gruppe der singulären n-Ketten in X. Uns interessieren hier nur die Fälle n=0,1,2. Im nächsten Semester (oder in jeder Vorlesung über "algebraische Topologie") wird der allgemeine Fall betrachtet.

Für uns ist Δn eine feste geometrische Realisierung des n-dimensionalen Simplex {0,1,2,...,n}. Den Rand von Δn bilden die (n-1)-dimensionalen Simplizes, die man erhält, wenn man in {0,1,2,...,n} nacheinander jeweils eine Ecke entfernt. Es gibt n+1 derartige Randsimplizes. Entsprechend liefert jede Abbildung f: Δn → X gerade n+1 Abbildungen fi: Δn-1 → X, nämlich die jeweiligen Einschränkungen, und zwar sei fi als die Abbildung auf dem Randsimplex, das nicht die Ecke i enthält, definiert.

Wir definieren Abbildungen
d = d1:  C1(X) → C0(X)
d = d2:  C2(X) → C1(X)
Dabei ist d1(γ) = γ0 - γ1 für γ: Δ1 → X,
und d2(Γ) = Γ0 - Γ1 + Γ2 für Γ: Δ2 → X.

Haupteigenschaft:  Es gilt d2 = d1d2 = 0.

Man setzt


Funktorialität. Sind X, Y topologische Räume und ist f: X → Y eine stetige Abbildung, so induziert f einen Gruppen-Homomorphismus H1(f): H1(X) → H1(Y).

Es ist einfach zu sehen:  H1 ist ein Funktor von der Kategorie der topologischen Räume in die Kategorie der abelschen Gruppen, denn es gilt: 

Der Hurewicz-Homomorphismus

Sei (X,x0) ein punktierter Raum. Zur Definition der Fundamentalgruppe sind wir von der Menge Ω(X,x0) ausgegangen. Wir werden nun jedes Element ω von Ω(X,x0) als ein Element von C1(X) auffassen, eben als ein Basiselement dieser Gruppe. Offensichtlich liegt ω in der Untergruppe Z1(X) der 1-Zyklen. Wir erhalten auf diese Weise eine Inklusionsabbildung Ω(X,x0) → Z1(X).

Satz. Sei (X,x0) ein punktierter Raum. Die Inklusion
Ω(X,x0) → Z1(X)
liefert eine Abbildung
φ:  π1(X,x0) → H1(X)
mit folgenden Eigenschaften: 
  • φ ist ein Gruppen-Homomorphismus.
  • Sein Kern ist die Kommutatorgruppe von π1(X,x0)
  • Ist X wegzusammenhängend, so ist φ surjektiv.

Man nennt φ Hurewicz-Homomorphismus. (Es ist φ([ω]) = ω+B1(X) für ω in Ω(X,x0).)


Für einen weg-zusammenhängenden Raum X und einen beliebigen Basispunkt x0 in X gilt also: 
π1(X,x0)ab = H1(X).
(Dabei verwenden wir den Hurewicz-Homomorphismus, um die Kommutatorfaktorgruppe der Fundamentalgruppe von X (bezüglich x0) mit der Homologie-Gruppe zu identifizieren.)

Folgerung 1. Ist X die punktierte Summe von t 1-Sphären, so ist
H1(X) = Zt.

Folgerung 2. Für die Flächen Fg und Ng gilt: 

H1(Fg) = Z2g.
H1(Ng) = Zg-1× C2.

Beweis des Satzes.

Sei nun X weg-zusammenhängend.

Wir definieren einen Gruppen-Homomorphismus ζ: C1(X) → π1(X,x0)ab auf folgende Weise: 

Da X wegzusammenhängend ist, können wir zu jedem x in X einen Weg κ(x) von x0 nach x wählen. Wir fixieren jeweils einen solchen Weg und nennen ihn κ(x); dabei sei κ(x0) = ε (der konstante Weg). Ist γ in Top(Δ1,X), so ist

γ' = (κ(γ(0))*γ)*(κ(γ(1)))-
ein Element von Ω(X,x0), also ist die Homotopieklasse [γ'] ein Element der Fundamentalgruppe π1(X,x0), und es sei nun
ζ(γ) = [[γ']] in π1(X,x0)ab.
Wir setzen ζ linear fort:  Sei eine endliche Summe ζ(Σ z(i)γi) in C1(X) gegeben, also ganze Zahlen z(i) und Elemente γi in Top(Δ1,X), so definieren wir: 
ζ(Σ z(i)γi) sei das Produkt der Elemente [[γi']]z(i) in π1(X,x0)ab.
(Hier verwenden wir, dass G = π1(X,x0)ab eine abelsche Gruppe und A = C1(X) eine freie abelsche Gruppe ist:  Um einen Gruppen-Homomorphismus ζ: C1(X) → π1(X,x0)ab zu definieren, reicht es, den Basis-Elementen γ von C1(X) einen Wert in G zuzuordnen.)

Ist X weg-zusammenhängend, so haben wir gesehen, dass φ ein surjektiver Gruppen-Homomorphismus π1(X,x0) → H1(X) ist, dessen Kern die Kommutatorgruppe von π1(X,x0) ist.

Sei nun X nicht weg-zusammenhängend, sei etwa X' die Wegzusammenhangskomponente von X, die x0 enthält. Man sieht leicht, dass die von der Inklusionsabbildung u: X' → X induzierte Abbildung H1(X') → H1(X) injektiv ist. Andererseits bildet φ die Fundamentalgruppe π1(X,x0) in H1(X') ab. Es folgt nun unmittelbar, dass auch im allgemeinen Fall der Kern von φ die Kommutatorgruppe von π1(X,x0) ist.


Die Hurewicz-Homomorphismen bilden zusammen eine natürliche Transformation. Dabei betrachten wir die beiden Funktoren π1 und H1 als Funktoren von der Kategorie der punktierten Räume in die Kategorie der (nicht notwendig kommutativen) Gruppen.

Ist nämlich f: (X,x0) → (Y,y0) eine punktierte stetige Abbildung, so ist das folgende Diagramm kommutativ: 

(Dabei müssten wir die vertikalen Abbildungen eigentlich mit φX bzw. φY bezeichnen, um zu betonen, dass die linke Abbildung der Hurewicz-Homomorphimus zu X (oder noch genauer: zu (X,x0)), die rechte Abbildung der Hurewicz-Homomorphimus zu (Y,y0) ist.)