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Die Rolle des Meisters

Frank gab von sich aus ganz bewusst keine Hilfestellung -- nach der Maxime man lernt am besten aus den eigenen Fehlern! Allerdings forderte er die Zeichnerinnen ständig auf, genau zu beobachten, nicht auswendig zu zeichnen.

Bei der Korrektur der Zeichnungen sprach er dann darüber, was er unter bewusstem Zeichnen im Gegensatz zum auswendigen versteht. Grundvoraussetzung dafür ist eine genaue Beobachtung des zu zeichnenden Gegenstandes, die darauf ausgerichtet ist, sich einen Einblick in dessen Struktur verschaffen: Dies kann beispielsweise so geschehen, dass man in dem zu zeichnenden Objekt nach charakteristischen Punkten und Linien sucht, aus deren Kenntnis sich mit dem gesunden Menschenverstand das ganze Objekt oder zumindest einer seiner Teile konstruieren und damit verstehen und zeichnen lässt. Ein Würfel zum Beispiel ist vollständig durch drei von einer seiner Ecken ausgehende Kanten bestimmt, eine Konfiguration, die man als Dreibein bezeichnet. Jede der übrigen Würfelkanten ist parallel zu einer der Kanten des Dreibeins, jede Würfelecke ist der gemeinsame Schnittpunkt von drei Würfelkanten. Diese Einsicht in den Gegenstand benutzt man dann beim Zeichnen, d.h. bei der Übertragung der räumlich, geometrischen Konfiguration in die Ebene.

Hier ergibt sich nun das Problem, wie man -- bleibt man beim Beispiel des Würfels -- das in dem Würfel enthaltene Dreibein korrekt zeichnet. Frank zeigte uns hierfür ein einfaches, bei Malern übliches Verfahren. Man zeichnet zunächst die senkrechte Kante des Dreibeins und ermittelt dann durch Peilen über den Daumen die scheinbaren Abstände der Endpunkte seiner beiden anderen Kanten von der schon gezeichneten Kante und ermittelt in gleicher Weise die scheinbare Höhe dieser Punkte über dem Punkt, in dem die drei Kanten des Dreibeins zusammenstossen. Beim Zeichnen anderer Gegenstände muss man dieses Verfahren natürlich sinngemäss an die jeweiligen Gegebenheiten anpassen, doch macht dies, hat man sich einmal darauf eingelassen, keine prinzipiellen Schwierigkeiten. Es ist klar, dass zwischen diesem geradezu schematischen Prozess und dem Verstehen eine enge Wechselwirkung besteht, und jeder, der Mathematik unterrichten will, sollte diese für die Mathematik typische Dialektik zwischen Theorie und Algorithmus möglichst oft selbst erfahren haben.

Da es sich in den Gesprächen mit den Zeichnern immer wieder herausstellte, dass sie in der Regel schon die allerersten Linien nicht korrekt gezeichnet hatten -- und dadurch die Grundlage für eine in sich widersprüchliche Zeichnung legten -- nahm Frank sich bei jedem einzelnen Teilnehmer viel Zeit dafür, den Zeichenprozess bis zu dem kritischen Punkt zurückzuverfolgen, an dem der Widerspruch seinen Ursprung hatte -- mit der Absicht, ihnen auf diese Weise mehr Selbständigkeit und grössere Kompetenz zu vermitteln.


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Christian Siebeneicher
Thu Jun 12 10:40:12 MET DST 1997