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3.5 Gleitspiegelungen

Bisher wissen wir, dass jede Bewegung die Komposition von höchstens drei Spiegelungen ist. Die Komposition von null Spiegelungen bzw. einer Spiegelung ist die Identität bzw. eine Spiegelung. Die Komposition von zwei Spiegelungen ist eine Drehung oder Verschiebung. Die Frage, die offen bleibt, ist: gibt es Bewegungen, für die man tatsächlich drei Spiegelungen braucht, oder kann jede Bewegung in Wirklichkeit als Komposition von höchstens zwei Spiegelungen geschrieben werden? Wir werden sehen, dass ersteres der Fall ist. Die Bewegungen, für die man drei Spiegelungen braucht, heißen Gleitspiegelungen.

Wir wissen auch bereits, dass die Fixpunktmenge einer Bewegung die Ebene, eine Gerade, ein Punkt, oder leer ist. Wenn die Fixpunktmenge die Ebene ist, ist die Bewegung die Identiät. Ist die Fixpunktmenge eine Gerade, ist die Bewegung nach Definition eine Spiegelung. Ist die Fixpunktmenge ein Punkt, ist die Bewegung nach Definition eine Drehung. Das heißt, Gleitspiegelungen können keinen Fixpunkt haben.

Um Gleitspiegelungen zu konstruieren, beobachten wir zunächst folgendes:

Proposition 3.24. Seien $P$ und $Q$ Punkte, sei $\tau $ die Verschiebung, die $P$ auf $Q$ abbildet, und $\sigma $ die Spiegelung an $PQ$. Dann ist $\tau \circ \sigma = \sigma \circ \tau $.

Beweis. Sei $R$ ein beliebiger Punkt. Wenn $R \in PQ$ ist $\sigma (R) = R$ und $\sigma (\tau (R)) = \tau (R)$, und die Behauptung ist klar. Wir betrachten also den Fall, wo $R$ nicht auf $PQ$ liegt. Die Verschiebung $\tau $ bildet jeden der Halbräume von $PQ$ auf sich ab. Die Spiegelung $\sigma $ vertauscht die beiden Halbräume von $PQ$. Die Punkte $R$ und $\sigma (R)$ sind die beiden Schnittpunkte von $P_R$ und $Q_R$ und die Punkte $\tau (R)$ und $\sigma (\tau (R))$ sind die beiden Schnittpunkte von $P_{\tau (R)}$ und $Q_{\tau (R)}$. Da $\tau (\sigma (R))$ der von $\tau (R)$ verschiedene Schnittpunkt von $P_{\tau (R)}$ und $Q_{\tau (R)}$ ist, ist $\tau (\sigma (R)) = \sigma (\tau (R))$. □

Die Gleitspiegelung mit Achse $PQ$, die $P$ auf $Q$ abbildet, ist die Abbildung $\gamma = \tau \circ \sigma = \sigma \circ \tau $ wobei $\tau $ die Verschiebung ist, die $P$ auf $Q$ abbildet und $\sigma $ die Spiegelung and $PQ$. Wenn $P = Q$, ist $\tau = \id $ und $\gamma = \sigma $ ist eine Spiegelung. Um diesen Fall auszuschließen sagen wir, dass $\gamma $ eine echte Gleitspiegelung ist, wenn $P \ne Q$ ist.

Proposition 3.25. Eine echte Gleitspiegelung ist die Komposition von (nicht weniger als) drei Spiegelungen. Sie hat keinen Fixpunkt.

Beweis. Sei $\gamma $ die Gleitspiegelung mit Achse $PQ$, die $P$ auf $Q$ abbildet, wobei $P \ne Q$. Sei $\tau $ die Verschiebung, die $P$ auf $Q$ abbildet und $\sigma $ die Spiegelung an $PQ$. Wir zeigen zunächst, dass $\gamma $ keinen Fixpunkt hat. Eine Gerade $g$, die senkrecht zu $PQ$ ist, von $\sigma $ auf sich selbst abgebildet und von $\tau $ auf eine von $g$ verschiedene Parallele. Ist jetzt $R$ irgendein Punkt und $g$ das Lot auf $PQ$ durch $R$, dann ist $g = \sigma (g) \ne \tau (\sigma (g)) = \tau (g)$. Jetzt liegt $R$ auf $g$ und $\gamma (R)$ auf $\tau (g)$. Da $g$ und $\tau (g)$ sich nicht schneiden, ist $R \ne \gamma (R)$.

Nach Definition ist $\gamma $ eine Komposition einer ungeraden Anzahl von Spiegelungen (wenn wir $\tau $ als Komposition von zwei Spiegelungen schreiben). Da $\gamma $ keinen Fixpunkt hat, ist es keine Spiegelung, kann also nicht als Komposition von nur einer Spiegelung geschrieben werden. Da $\gamma $ ungerade ist, sind drei Spiegelungen also die minimale Anzahl an Spiegelungen, die nötig ist. □

Proposition 3.26. Eine ungerade Bewegung, die keine Spiegelung ist, ist eine echte Gleitspiegelung.

Beweis. Sei $\varphi $ eine ungerade Bewegung, die keine Spiegelung ist. Da $\varphi $ keine Drehung (sondern ungerade) ist und keine Spiegelung ist, hat $\varphi $ keinen Fixpunkt. Dann hat auch auch $\varphi \circ \varphi $ keinen Fixpunkt, denn wäre $F$ ein Fixpunkt von $\varphi \circ \varphi $, dann wäre der Mittelpunkt von $F$ und $\varphi (F)$ ein Fixpunkt von $\varphi $.

Da $\varphi \circ \varphi $ eine gerade Bewegung ohne Fixpunkt ist, ist es eine Verschiebung. Sei $\tau $ die Verschiebung mit $\tau \circ \tau = \varphi \circ \varphi $ (konstruiert als die Verschiebung, die einen Punkt $A$ auf den Mittelpunkt von $A$ und $\varphi \circ \varphi (A)$ abbildet). Sei $g = P\tau (P)$ und $h = \varphi (g) = \varphi (P)\varphi (\tau (P))$. Wir behaupten, dass $\varphi (h) = g$. In der Tat ist $\varphi (\varphi (P)) \in g$ und $\varphi (\varphi (\tau (P))) = \tau (\tau (\tau (P))) \in g$. Die Abbildung $\varphi $ vertauscht also die beiden Geraden $g$ und $h$. Da $\varphi $ keinen Fixpunkt hat, müssen $g$ und $h$ parallel sein (sonst wäre der eindeutige Schnittpunkt ein Fixpunkt von $\varphi $). Insbesondere bildet $\varphi $ jede Gerade, die parallel zu $g$ ist, auf eine Gerade parallel zu $g$ ab.

Sei nun $f$ eine Senkrechte zu $g$ und $h$ die $g$ im Punkt $G$ und $h$ im Punkt $H$ schneidet und sei $M$ der Mittelpunkt von $G$ und $H$. Sei $\ell $ die Parallele zu $g$ und $h$ durch $M$. Nach Konstruktion bildet $\varphi $ die Gerade $\ell $ auf sich ab (ebenso wie $\tau $). Es folgt, dass für Punkte $P \in \ell $ gilt $\tau (P) = \varphi (P)$. Also ist $\ell $ die Fixpunktmenge von $\sigma = \varphi ^{-1} \circ \tau $, was damit eine Spiegelung ist. Folglich ist $\varphi = \tau \circ \sigma $ eine Gleitspiegelung. □

Wir können also Bewegungen wie in Tabelle 1 dargestellt klassifizieren.


Typ FixpunktmengeKomposition von
…Spiegelungen
gerade/
ungerade




Identität Ebene $0$ gerade
Spiegelung Gerade $1$ ungerade
echte Drehung Punkt $2$ gerade
echte Verschiebung leer $2$ gerade
echte Gleitspiegelungleer $3$ ungerade

Tabelle 1: Klassifikation von Bewegungen. Mit einer „echten“ Drehung bzw. Verschiebung ist eine Drehung/Verschiebung gemeint, die nicht die Identität ist. Mit einer echten Gleitspiegelung ist eine gemeint, die keine Spiegelung ist.