$\newcommand {\N }{\mathbb {N}}$$\newcommand {\Z }{\mathbb {Z}}$$\newcommand {\Q }{\mathbb {Q}}$$\newcommand {\R }{\mathbb {R}}$$\newcommand {\E }{\mathbb {E}}$$\newcommand {\id }{\operatorname {id}}$$\newcommand {\Isom }{\operatorname {Isom}}$$\newcommand {\defeq }{\mathrel {\mathop {:}}=}$$\newcommand {\eqdef }{=\mathrel {\mathop {:}}}$$\newcommand {\abs }[1]{\lvert #1 \rvert }$$\newcommand {\floor }[1]{\left \lfloor #1 \right \rfloor }$$\newcommand {\ceil }[1]{\left \lceil #1 \right \rceil }$$\newcommand {\seg }[1]{\overline {#1}}$$\newcommand {\strahl }[1]{\overrightarrow {#1}}$$\newcommand {\ang }{\sphericalangle }$$\newcommand {\gang }{\angle }$$\newcommand {\paritaet }{\operatorname {par}}$$\newcommand {\drehw }{\operatorname {ang}}$$\newcommand {\vektor }[1]{\underline {#1}}$$\renewcommand {\vec }{\operatorname {vec}}$$\newcommand {\protect }[1]{}$

1.2 Kreise

Seien $M,P,Q$ Punkte. Der Kreis mit Mittelpunkt $M$ durch $P$ ist die Menge $M_P$ der Punkte, die den gleichen Abstand zu $M$ haben wie $P$: \[ M_P = \{R \in \E ^2 \mid \abs {MR} = \abs {MP}\}\text {.} \] Dieser Kreis kann mit einem „euklidischen“ Zirkel konstruiert werden, dessen Einstellung verlorengeht, sobald man ihn vom Blatt hochnimmt. Das Innere des Kreises ist die Menge der Punkte $R$ mit $\abs {MR} < \abs {MP}$, das Äußere die Menge der Punkte $R$ mit $\abs {MR} > \abs {MP}$.


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Abbildung 2: Ein Kreis $M_P$ und ein Kreis $N_{QR}$.


Mithilfe von Kreisen können wir unsere erste Konstruktion vornehmen:

Problem 1.1 (Gleichseitiges Dreieck). Gegeben Punkte $P$ und $Q$, konstruiere ein Dreieck $PQR$ dessen Kanten die Länge $\abs {PQ}$ haben.

Konstruktion. Wähle $R$ als einen der Schnittpunkte von $P_Q$ und $Q_P$. $\Diamond $

Beweis. Dass $R \in P_Q$ ist, bedeutet $\abs {RP} = \abs {RQ}$ und dass $R \in Q_P$ ist, bedeutet $\abs {RQ} = \abs {PQ}$. □

Dass sich die Kreise tatsächlich schneiden (und dass es ein gleichseitiges Dreieck gibt!), folgt nicht aus den bisherigen Axiomen, wir nehmen es als neues Axiom auf.

Axiom 3 (Kreis-Schnittpunkte).

  1. Seien $M_P$ und $N_Q$ Kreise. Wenn $M_P$ mindestens einen Punkt innerhalb von $N_Q$ und einen Punkt außerhalb davon, dann haben $M_P$ und $N_Q$ in jedem Halbraum von $MN$ einen eindeutigen Schnittpunkt.
  2. Sei $M_P$ ein Kreis und $\strahl {QR}$ ein Strahl. Wenn $Q$ im Innern von $M_P$ liegt, dann haben $M_P$ und $\strahl {QR}$ einen eindeutigen Schnittpunkt.

Der Kreis mit Mittelpunkt $M$ und Radius $\abs {PQ}$ ist die Menge $M_{PQ}$ der Punkte, deren Abstand zu $M$ gleich dem Abstand von $P$ zu $Q$ ist: \[ M_{PQ} = \{R \in \E ^2 \mid \abs {MR} = \abs {PQ}\}\text {.} \] Dieser Kreis kann mit einem gewöhnlichen Zirkel konstruiert werden: zunächst stellt man den Zirkel auf den Abstand $\abs {PQ}$ ein, und bewegt ihn dann um den Kreis um $M$ zu zeichnen.

Problem 1.2 (Allgemeiner Kreis ohne gewöhnlichen Zirkel). Gegeben Punkte $M,P,Q$, konstruiere $M_{PQ}$ ohne einen gewöhnlichen Zirkel zu verwenden.

Konstruktion. Konstruiere $A$, so dass $AMP$ ein gleichseitiges Dreieck ist, Problem 1.1. Wähle $B$ als Schnittpunkt von $\strahl {AP}$ und $P_Q$. Wähle $C$ als Schnittpunkt von $A_B$ und $\strahl {AM}$. Dann ist $M_C = M_{PQ}$. $\Diamond $

Beweis. Es ist $\abs {AM} = \abs {AP}$ weil $AMP$ ein gleichseitiges Dreieck ist. Es ist $\abs {AC} = \abs {AB}$, weil $C$ auf $A_B$ liegt. Es ist $\abs {PB} = \abs {PQ}$ weil $B \in P_Q$ ist. Schließlich ist $\abs {AB} = \abs {AP} + {PB}$ und $\abs {AC} = \abs {AM} + \abs {MC}$. Also ist $\abs {MC} =\abs {AC} - \abs {AM} = \abs {AB} - \abs {AP} = \abs {PB} = \abs {PQ}$. □


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Abbildung 3: Die Konstruktion zu Problem 1.2.


Die Lösung von Problem 1.2 zeigt, dass ein euklidischer Zirkel genauso „mächtig“ ist, wie ein gewöhnlicher. Mit einem Zirkel werden wir deshalb der Einfachheit halber einen gewöhnlichen meinen.

Die Konstruktion zu Problem 1.2 ist auch ein Beispiel dafür, wie wir frühere Konstruktionen wiederverwenden können: Aus der Lösung von Problem 1.1 wissen wir, dass ein gleichseitiges Dreieck konstruiert werden kann, also müssen wir die Konstruktion hier nicht erneut beschreiben, sondern können sie als gegeben annehmen. Mit der Zeit bauen wir so einen Vorrat an immer komplexeren Konstruktionen auf, die wir zu neuen Konstruktionen zusammensetzen können.

Ganz ähnlich verhält es sich mit logischen Aussagen: sobald wir eine Aussage einmal bewiesen haben, können wir sie verwenden, ohne sie erneut beweisen zu müssen. Mit der Zeit erhalten wir einen Vorrat an immer komplexeren Aussagen, die wir zu neuen Aussagen zusammensetzen können.