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1.5 Winkel

Seien $P,Q,R$ drei Punkte. Die beiden Strahlen $s = \strahl {QP}$ und $t = \strahl {QR}$ bilden einen Winkel, den wir mit $\gang (s,t)$ oder auch mit $\gang PQR$ bezeichnen. Die Strahlen $s$ und $t$ heißen die Schenkel des Winkels, der Punkt $Q$ ist sein Scheitel.


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Abbildung 7: Ein Winkel $\gang PQR$ und ein Dreieck $STU$.


Seien $g$ und $h$ zwei Geraden, die sich in einem Punkt $Q$ schneiden. Seien $s$ und $s'$ die beiden Strahlen in $g$ ab $Q$ und $t$ und $t'$ die beiden Strahlen in $h$ ab $Q$. Die Winkel $\gang (s,t)$ und $\gang (t,s')$ sind Nebenwinkel. Die Winkel $\gang (s,t)$ und $\gang (s',t')$ sind Gegenwinkel. Der Winkel $\gang (s,s')$ ist ein gestreckter Winkel. Ein rechter Winkel ist ein Winkel, der kongruent zu einem Nebenwinkel ist.

Proposition 1.12. Für jeden Winkel $\gang (s,t)$ gibt es eine Bewegung, die $s$ und $t$ vertauscht. Mit anderen Worten: $\gang (s,t)$ und $\gang (t,s)$ sind kongruent.

Beweis. Sei $P$ der Scheitel von $\gang (s,t)$ und seien $Q \in s$ und $R \in T$ von $P$ verschieden mit $\abs {PQ} = \abs {PR}$. Dann sind die Dreiecke $PQR$ und $PRQ$ nach Satz 1.9 kongruent. Es gibt also eine Bewegung, die $P$ festhält und $Q$ und $R$ vertauscht. Diese Vertauscht auch die Strahlen $s$ und $t$. □

Proposition 1.13. Nebenwinkel von kongruenten Winkeln sind kongruent.

Beweis. Sei $\varphi $ eine Bewegung, die $\gang (s,t)$ auf $\gang (s',t')$ abbildet. Sei $u$ der zu $s$ komplementäre Strahl und $u'$ der zu $s'$ komplementäre. Dann bildet $\varphi $ den eindeutigen zu $s$ komplementären Strahl $u$ auf den eindeutigen zu $s'$ komplementären Strahl $u'$ ab: $\varphi (u) = u'$. Also bildet $\varphi $ den Winkel $\gang (t,u)$ auf $\gang (t',u')$ ab. □

Folgerung 1.14. Jeder Winkel ist kongruent zu seinem Gegenwinkel.

Beweis. Zwei Gegenwinkel haben einen gemeinsamen Nebenwinkel, der zu sich selbst kongruent ist. Die Aussage folgt daher aus Proposition 1.13. □

Satz 1.15 (Kongruenzsatz „SWS“). Wenn $PQR$ und $P'Q'R'$ Dreiecke sind mit $\abs {PQ} = \abs {P'Q'}$ und $\abs {QR} = \abs {Q'R'}$ und wenn $\gang {PQR}$ kongruent ist zu $\gang {P'Q'R'}$, dann ist $PQR$ kongruent zu $P'Q'R'$.

Beweis. Sei $\varphi $ eine Bewegung, die $\gang {PQR}$ auf $\gang {P'Q'R'}$ abbildet. Mit Proposition 1.12 können wir annehmen, dass $\varphi (\strahl {QP}) = \strahl {Q'P'}$ und $\varphi (\strahl {QR}) = \strahl {Q'R'}$. Dann bildet $\varphi $ aber auch $P$, als den eindeutigen Punkt auf $\strahl {QP}$ mit Abstand $\abs {QP}$ auf $P'$ ab, den eindeutigen Punkt auf $\strahl {Q'P'}$ mit Abstand $\abs {Q'P'} = \abs {QP}$. Ein analoges Argument zeigt, dass $\varphi (R) = R'$. □

Proposition 1.16. Wenn $\gang (s,t)$ und $\gang (s,t')$ kongruent sind und $t$ und $t'$ im selben Halbraum der von $s$ aufgespannten Gerade, dann ist $t = t'$.

Beweis. Sei $P$ Scheitel von $\gang (s,t)$ und seien $Q \ne P$ ein Punkt auf $s$ und $R \ne P$ ein Punkt auf $t$. Eine Bewegung, die $\gang (s,t)$ auf $\gang (s,t')$ abbildet, bildet $R$ auf einen Punkt $R' \in t'$ ab. Nach Voraussetzung liegen $R$ und $R'$ im selben Halbraum der von $s$ aufgespannten Gerade. Sie sind beide Schnittpunkte der Kreise $P_R$ und $Q_R = Q_{R'}$. Da es nur einen solchen Schnittpunkt gibt, ist $R = R'$ und damit $t = \strahl {PR} = \strahl {PR'} = t'$. □

Satz 1.17 (Kongruenzsatz „WSW“). Wenn $PQR$ und $P'Q'R'$ Dreiecke sind mit $\abs {PQ} = \abs {P'Q'}$, $\gang {PQR} \equiv \gang {P'Q'R'}$ und $\gang {QPR} \equiv \gang {Q'P'R'}$, dann ist $PQR$ kongruent zu $P'Q'R'$.

Beweis. Sei $\varphi $ eine Bewegung, die $P$ auf $P'$ und $Q$ auf $Q'$ abbildet und den Halbraum von $PQ$ der $R$ enthält auf den Halbraum von $P'Q'$ der $R'$ enthält. Eine solche kann man konstruieren wie im Beweis von Satz 1.9. Da $\varphi (\gang QPR) \equiv \gang QPR \equiv \gang Q'P'R'$ ist, ist nach Proposition 1.16 $\varphi (\strahl {PR}) = \strahl {P'R'}$. Ähnlich sieht man, dass $\varphi (\strahl {QR}) = \strahl {Q'R'}$. Damit bildet $\varphi $ den Schnittpunkt $R$ von $\strahl {PR}$ und $\strahl {QR}$ auf den Schnittpunkt $R'$ von $\strahl {P'R'}$ und $\strahl {Q'R'}$ ab. □

Es gibt noch einen weiteren Kongruenzsatz, den wir ohne Beweis formulieren:

Satz 1.18 (Kongruenzsatz WWS). Wenn $PQR$ und $P'Q'R'$ Dreiecke sind mit $\abs {PQ} = \abs {P'Q'}$, $\gang QPR \equiv \gang Q'P'R'$ und $\gang QRP \equiv Q'R'P'$, dann ist $PQR$ kongruent zu $P'Q'R'$.

Übung 1 (WWS konstruktiv). Gegeben Winkel $\gang ABC$ und $\gang DEF$ und ein Segment $\seg {GH}$, konstruiere ein Dreieck $PQR$ mit $\gang RPQ \equiv \gang ABC$, $\gang PQR \equiv \gang DEF$ und $\abs {QR} = \abs {GH}$.

Proposition 1.19. Seien $s,s',t$ Strahlen ab einem Punkt $P$, so dass $g = s \cup s'$ eine Gerade ist. Sei $\ell $ die Gerade, die $t$ enthält. Die einzige Bewegung, die $\gang (s,t)$ auf $\gang (s',t)$ abbildet, ist die Spiegelung an $\ell $.

Beweis. Seien $Q \in s$ und $Q' \in s'$ Punkte im gleichen Abstand von $P$. Sei $\varphi $ eine Bewegung, die $s$ auf $s'$ abbildet und $t$ auf sich selbst. Dann ist $\ell $ in der Fixpunktmenge von $\varphi $ und $\varphi (Q) = \varphi (Q')$. Nach Proposition 1.5 ist $\varphi $ die (nach Axiom 5(3) eindeutige) Spiegelung an $\ell $. □

Folgerung 1.20. Rechte Winkel sind kongruent zueinander.

Beweis. Seien $\gang (s,t)$ und $\gang (s',t')$ zwei rechte Winkel. Aus Satz 1.9 folgt, dass $\gang (s',t')$ kongruent ist zu einem Winkel $\gang (s,t'')$ bei dem $t''$ im selben Halbraum der von $s$ aufgespannten Gerade liegt, wie $t$. Aus Proposition 1.19 folgt, dass $t = t''$. □

Wir ordnen jedem Winkel eine Gradzahl zwischen $0^\circ $ und $180^\circ $ zu. Die folgenden Regeln beschreiben die Zuordnung: Ein trivialer Winkel $\gang (s,s)$ misst $0^\circ $. Ein rechter Winkel misst $90^\circ $. Ein gestreckter Winkel misst $180^\circ $. Die Summe von zwei Winkeln, die $x^\circ $ und $y^\circ $ messen, misst $(x+y)^\circ $, vorausgesetzt $x+y \le 180$. Kleinere Winkel messen kleinere Gradzahlen. Um auszudrücken, dass $\gang (s,t)$ eine Gradzahl $x^\circ $ misst, schreiben wir der Einfachheit halber $\gang (s,t) = x^\circ $.

Aus Folgerung 1.20 erhalten wir:

Folgerung 1.21. Kongruente Winkel messen dieselbe Gradzahl.

Wir kommen zu einer fundamentalen Aussage über Winkel in Dreiecken:


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Abbildung 8: Die Winkelsumme im Dreieck ist $180^\circ $.


Proposition 1.22. Die Winkelsumme im Dreieck ist $180^\circ $. Das heißt, ist $PQR$ ein beliebiges Dreieck, dann ist die Summe von $\gang PQR$, $\gang QRP$ und $\gang RPQ$ gerade $180^\circ $.

Beweis. Sei $g$ die zu $PQ$ parallele Gerade durch $R$. Sei $A$ der Schnittpunkt von $R_{QP}$ mit $g$ der im selben Halbraum von $QR$ liegt, wie $P$. Sei $B$ der von $Q$ verschiedene Schnittpunkt von $R_Q$ und $QR$ (vgl. Abbildung 8). Die Summe von $\gang QRP$, $\gang PRA$ und $\gang ARB$ ist $180^\circ $. Die Behauptung folgt deshalb, wenn wir zeigen, dass $\gang QPR \equiv \gang ARP$ und $\gang PQR \equiv \gang ARB$.

Sei $\tau _{QP}$ die Translation, die $Q$ auf $P$ abbildet. Nach Konstruktion bildet sie $R$ aud $B$ und $P$ auf $A$ ab. Also ist $\gang PQR \equiv \gang ARB$. Sei $\tau _{PR}$ die Translation, die $P$ auf $R$ abbildet. Nach Konstruktion bildet sie $\gang QPR$ auf den Gegenwinkel von $\gang ARP$ in $R$ ab. Aus Folgerung 1.14 folgt, dass $\gang ARP \equiv \gang QPR$. □

Wenn wir den Winkel zwischen zwei Strahlen $s$ und $t$ im Gegenuhrzeigersinn messen, können wir ihm eine Zahl zwischen $0^\circ $ und $360^\circ $ zuordnen. Der Vorteil ist, dass dann das Winkelmaß der Summe zweier Winkel immer gleich der Summe der einzelnen Winkelmaße ist. Der Nachteil ist, dass dieses Maß nicht invariant unter Kongruenz ist. Wir bezeichnen dieses Maß als den algebraischen Winkel und schreiben ihn $\ang (s,t)$.