$\newcommand {\N }{\mathbb {N}}$$\newcommand {\Z }{\mathbb {Z}}$$\newcommand {\Q }{\mathbb {Q}}$$\newcommand {\R }{\mathbb {R}}$$\newcommand {\E }{\mathbb {E}}$$\newcommand {\id }{\operatorname {id}}$$\newcommand {\Isom }{\operatorname {Isom}}$$\newcommand {\defeq }{\mathrel {\mathop {:}}=}$$\newcommand {\eqdef }{=\mathrel {\mathop {:}}}$$\newcommand {\abs }[1]{\lvert #1 \rvert }$$\newcommand {\floor }[1]{\left \lfloor #1 \right \rfloor }$$\newcommand {\ceil }[1]{\left \lceil #1 \right \rceil }$$\newcommand {\seg }[1]{\overline {#1}}$$\newcommand {\strahl }[1]{\overrightarrow {#1}}$$\newcommand {\ang }{\sphericalangle }$$\newcommand {\gang }{\angle }$$\newcommand {\paritaet }{\operatorname {par}}$$\newcommand {\drehw }{\operatorname {ang}}$$\newcommand {\vektor }[1]{\underline {#1}}$$\renewcommand {\vec }{\operatorname {vec}}$$\newcommand {\protect }[1]{}$

1.4 Bewegungen, Kongruenz

Eine Bewegung ist eine bijektive Abbildung $\varphi \colon \E ^2 \to \E ^2$ die den Abstand erhält: $\abs {\varphi (P)\varphi (Q)} = \abs {PQ}$. Anschaulich beschreibt eine Bewegung die Bewegung eines Blatts Papier. Die triviale Bewegung oder Identität $\id $ ist die Abbildung, die jeden Punkt lässt, wo er ist: für alle $P$ ist $\id (P) = P$.

Bemerkung 1.4. Was wir Bewegung nennen hieß in der Vorlesung von Herrn Bauer Isometrie.

Zwei Bewegungen können nacheinander ausgeführt werden: wenn $\varphi $ und $\psi $ Bewegungen sind, definiert $\varphi \circ \psi (P) = \varphi (\psi (P))$ eine Bewegung $\varphi \circ \psi $.

Jede Bewegung $\varphi $ hat eine Inverse $\varphi ^{-1}$, die die Wirkung von $\varphi $ rückgängig macht. Sie ist dadurch beschrieben dass $\varphi ^{-1}(Q) = P$ wenn $\varphi (P) = Q$. Dies lässt sich auch ausdrücken durch die Formeln $\varphi \circ \varphi ^{-1} = \id = \varphi ^{-1} \circ \varphi $.

Bewegungen bilden (parallele) Geraden auf (parallele) Geraden und Kreise auf Kreise ab. Eine Figur $f \subseteq \E ^2$ heißt invariant unter einer Bewegung $\varphi $ wenn $\varphi (f) = f$, wenn also jeder Punkt von $f$ auf einen Punkt von $f$ abgebildet wird. Ein Punkt $P \in E^2$ heißt Fixpunkt von $\varphi $ wenn $\varphi $ den Punkt auf sich selbst abbildet: $\varphi (P) = P$. Die Menge aller Fixpunkte einer Bewegung $\varphi $ ist seine Fixpunktmenge. Die Fixpunktmenge von $\varphi $ ist invariant unter $\varphi $. Umgekehrt kann aber eine Menge invariant unter $\varphi $ sein, ohne einen Fixpunkt zu enthalten.

Proposition 1.5. Die Fixpunktmenge einer Bewegung ist entweder leer, ein einziger Punkt, eine Gerade, oder die ganze Ebene.

Beweis. Sei $\varphi $ eine Bewegung. Wir behaupten erstens, dass wenn $\varphi $ zwei verschiedene Fixpunkte $P$ und $Q$ hat, dann ist schon jeder Punkt auf $PQ$ ein Fixpunkt. Wir behaupten zweitens, dass wenn $\varphi $ außerdem noch einen Fixpunkt $R$ hat, der nicht auf $PQ$ liegt, dann ist jeder Punkt ein Fixpunkt. Aus diesen beiden Behauptungen folgt die Aussage der Proposition.

Zur ersten Behauptung. Angenommen $P$ und $Q$ sind Fixpunkte von $\varphi $. Dann folgt direkt, dass $PQ$ invariant unter $\varphi $ ist. Sei jetzt $T \in PQ$ ein Punkt. Da $\varphi $ eine Bewegung ist, ist $\abs {\varphi (P)\varphi (T)} = \abs {PT}$. Da $P$ ein Fixpunkt ist, ist $\abs {\varphi (P)\varphi (T)} = \abs {P\varphi (T)}$. Zusammen folgt, dass $\abs {PT} = \abs {P\varphi (T)}$. Das selbe gilt mit $P$ ersetzt durch $Q$. Demnach hat $\varphi (T)$ den gleichen Abstand von $P$ und von $Q$ wie $T$. Aus Axiom 2(2) folgt dann, dass $\varphi (T) = T$. Also ist $T$ ein Fixpunkt. Da $T$ beliebig war, ist jeder Punkt von $PQ$ ein Fixpunkt von $\varphi $.

Zur zweiten Behauptung. Angenommen $P,Q,R$ sind Fixpunkte von $\varphi $, die nicht kollinear sind. Nach der ersten Behauptung sind alle Punkte auf $PQ$ auf $QR$ und auf $PR$ Fixpunkte von $\varphi $. Sei $T$ ein beliebiger Punkt. Wir wollen zeigen, dass $T$ ebenfalls ein Fixpunkt von $\varphi $ ist. Wir betrachten die Gerade $PT$ und unterscheiden zwei Fälle. Im ersten Fall schneiden sich $PT$ und $QR$ in einem Punkt $U$. Dann ist $PT = PU$. Da $P$ und $U$ Fixpunkte von $\varphi $ sind, ist nach der ersten Behauptung auch $T$ ein Fixpunkt von $\varphi $. Im zweiten Fall ist $PT$ parallel zu $QR$. Dann ist $PT$ invariant unter $\varphi $: es ist die eindeutige Gerade parallel zu $QR$ durch $P$. Damit ist $P$ ein Fixpunkt: es ist der eindeutige Schnittpunkt von $Q_T$ und $R_T$ auf $PT$. □

Folgerung 1.6. Wenn $PQR$ ein Dreieck ist und $\varphi $ und $\psi $ Bewegungen mit $\varphi (P) = \psi (P)$, $\varphi (Q) = \psi (Q)$, $\varphi (R) = \psi (R)$, dann ist $\varphi = \psi $.

Beweis. Die Bedingungen besagen, das die Fixpunktmenge von $\varphi ^{-1}\psi $ die Punkte $P$, $Q$ und $R$ enthält. Nach Proposition 1.5 muss die Fixpunktmenge die ganze Ebene sein. Das heißt, für jeden Punkt $T$ ist $\varphi ^{-1}\psi (T) = T$, das heißt, $\varphi (T) = \psi (T)$. □

Drei Klassen von Bewegungen bekommen besondere Namen:


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Abbildung 4: Der Effekt einer Translation.


Eine Bewegung $\varphi \colon \E ^2 \to \E ^2$ ist eine Translation (Verschiebung) wenn sie keinen Fixpunkt hat und jede Gerade auf eine zu ihr parallele Gerade abbildet. Wir verabreden außerdem, dass auch die Identität als Translation gilt.


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Abbildung 5: Der Effekt einer Rotation.


Eine Bewegung ist eine Rotation (Drehung) wenn sie genau einen Fixpunkt hat. Wieder gilt gemäß Vereinbarung auch die Identität als Rotation.


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Abbildung 6: Der Effekt einer Reflektion.


Eine Bewegung ist eine Reflektion (Spiegelung) wenn ihre Fixpunktmenge eine Gerade ist. Eine Bewegung $\varphi $ ist eine Involution wenn $\varphi \circ \varphi = \id $. Eine äquivalente Bedingung ist, das $\varphi = \varphi ^{-1}$. Eine Involution bildet $P$ auf $Q$ ab genau dann wenn sie $Q$ auf $P$ abbildet: $\varphi (P) = Q$ genau dann wenn $\varphi (Q) = P = \varphi (\varphi (P))$.

Dass Translationen, Rotationen und Reflektionen existieren, folgt nicht aus den bisherigen Axiomen, wir fordern es axiomatisch:

Axiom 5 (Bewegungen).

  1. Gegeben zwei Punkte $P$ und $Q$ existiert genau eine Translation $\tau $ mit $\tau (P) = Q$.
  2. Gegeben drei Punkte $P$, $Q$ und $Q'$ mit $\abs {PQ} = \abs {PQ'}$ existiert genau eine Rotation $\rho $ mit $\rho (P) = P$ und $\rho (Q) = Q'$.
  3. Gegeben eine Gerade $\ell $ gibt es genau eine Spiegelung $\sigma $, deren Fixpunktmenge die Gerade $\ell $ ist.

Wir bezeichnen die Translation, die $P$ auf $Q$ abbildet mit $\tau _{PQ}$.

Wir bezeichnen die Fixpunktmenge einer Spiegelung als ihre Spiegelungsachse. Die Spiegelung mit Achse $g$ schreiben wir $\sigma _g$.

Zwei Figuren $f$ und $f'$ sind kongruent, geschrieben $f \equiv f'$, wenn es eine Bewegung $\varphi $ gibt, die $f$ auf $f'$ abbildet: $\varphi (f) = f'$.

Bemerkung 1.7. Kongruenz von algebraischen Winkeln ist in Abschnitt 3.7 anders definiert.

Proposition 1.8. Zwei Segmente $\seg {PQ}$ und $\seg {P'Q'}$ sind kongruent genau dann, wenn sie die gleiche Länge haben.

Beweis. Kongruent impliziert gleiche Länge: Da Bewegungen Abstand erhalten müssen zwei kongruente Segmente die gleiche Länge haben.

Gleiche Länge impliziert kongruent: Sei $\tau $ eine Translation, die $P$ auf $P'$ abbildet. Sei $\rho $ eine Rotation, die $P'$ festhält und $\tau (Q)$ auf $Q'$ abbildet. Wir behaupten das $\varphi \defeq \rho \circ \tau $ das Segment $\seg {PQ}$ auf $\seg {P'Q'}$ abbildet. Wir berechnen $\varphi (P) = \rho (\tau (P)) = \rho (P') = P'$ und $\varphi (Q) = \rho (\tau (Q)) = Q'$. Also sind $\seg {PQ}$ und $\seg {P'Q'}$ kongruent. □

Nun fehlt nicht viel zum ersten Kongruenzsatz:

Satz 1.9 (Kongruenzsatz „SSS“). Seien $PQR$ und $P'Q'R'$ Dreiecke. Wenn gilt $\abs {PQ} = \abs {P'Q'}$, $\abs {QR} = \abs {Q'R'}$ und $\abs {PR} = \abs {P'R'}$, dann sind $PQR$ und $P'Q'R'$ kongruent.

Beweis. Da $\abs {PQ} = \abs {P'Q'}$ ist, existiert nach Proposition 1.8 eine Bewegung $\varphi $ mit $\varphi (P) = P'$ und $\varphi (Q) = Q'$. Wir ersetzen das Dreieck $PQR$ durch das kongruente Dreieck $\varphi (PQR)$. Danach gilt, $P = P'$ und $Q = Q'$. Nun liegen $R$ und $R'$ beide auf den Kreisen $P_R$ und $Q_R$, die sich in zwei Punkten schneiden. Wenn $R = R'$ ist, sind wir fertig, denn $PQR = P'Q'R'$. Andernfalls sei $g = PQ$. Die Spiegelung $\sigma _g$ hält dann $P$ und $Q$ fest und vertauscht wegen Axiom 3(1) die beiden Punkte $R$ und $R'$. Somit ist $\sigma _g(PQR) = P'Q'R'$. □

Proposition 1.10. Zu zwei verschiedenen Punkten $P$ und $Q$ gibt es eine eindeutige Gerade $\ell $ so, dass $\sigma _\ell (P) = Q$ und $\sigma _\ell (Q) = P$.

Beweis. Wir zeigen zunächst die Existenz einer solchen Spiegelung.

Seien $R$ und $S$ die beiden Schnittpunkte von $P_Q$ und $Q_P$, einer in jedem Halbraum von $PQ$ nach Axiom 3(1). Sei $\ell = RS$. Wir behaupten, dass $\sigma _\ell $ die Punkte $P$ und $Q$ vertauscht. Denn $P$ und $Q$ sind die beiden eindeutigen Schnittpunkte von $R_P$ und $S_P$. Da sie nicht auf $\ell $ liegen, hält $\sigma _\ell $ sie nicht fest und da es nur zwei gibt, vertauscht es sie.

Ist $\ell '$ eine weitere Gerade, so dass $\sigma _{\ell '}$ die Punkte $P$ und $Q$ vertauscht, dann gilt für jeden Punkt $N$ auf $\ell '$, dass $\abs {PN} = \abs {\sigma _{\ell '}(P)\sigma _{\ell '}(N)} = \abs {QN}$. Insbesondere sind zwei Schnittpunkte von $P_Q$ mit $\ell '$ auch Punkte von $Q_P$. Da sich $P_Q$ und $Q_P$ nur in den beiden Punkten $R$ und $S$ schneiden, folgt dass $\ell ' = RS = \ell $. □

Wenn $P$ und $Q$ zwei verschiedene Punkte sind und $\sigma _\ell $ die Spiegelung, die sie vertauscht, nennen wir $\ell $ die Mittelsenkrechte von $\seg {PQ}$. Wir nennen den Schnittpunkt von $PQ$ mit $\ell $ den Mittelpunkt von $P$ und $Q$.

Aus dem Beweis von Proposition 1.10 sehen wir:

Folgerung 1.11. Seien $P$ und $Q$ zwei verschiedene Punkte und $\ell $ die Mittelsenkrechte von $\seg {PQ}$. Ein Punkt $N$ liegt auf $\ell $ genau dann, wenn $\abs {PN} = \abs {QN}$.

Beweis. Wenn $N$ auf $\ell $ liegt, ist $\sigma _\ell (N) = N$, also $\abs {PN} = \abs {\sigma _\ell (P)\sigma _\ell (N)} = \abs {QN}$.

Wir nehmen umgekehrt an, dass $\abs {PN} = \abs {QN}$ und wollen zeigen, dass $N$ auf $\ell $ liegt. Sei $M$ der Mittelpunkt von $P$ und $Q$. Wenn $N = M$ ist, wissen wir bereits, dass $N$ in $\ell $. Es bleibt also, den Fall $N \ne M$ zu betrachten. Sei $N' = \sigma _{PQ}(N)$. Dann ist $NN' = MN$ und $\sigma _{NN'}$ vertauscht $P$ und $Q$. Also ist $NN' = MN$ die Mittelsenkrechte von $\seg {PQ}$. □