$\newcommand {\N }{\mathbb {N}}$$\newcommand {\Z }{\mathbb {Z}}$$\newcommand {\Q }{\mathbb {Q}}$$\newcommand {\R }{\mathbb {R}}$$\newcommand {\E }{\mathbb {E}}$$\newcommand {\id }{\operatorname {id}}$$\newcommand {\Isom }{\operatorname {Isom}}$$\newcommand {\defeq }{\mathrel {\mathop {:}}=}$$\newcommand {\eqdef }{=\mathrel {\mathop {:}}}$$\newcommand {\abs }[1]{\lvert #1 \rvert }$$\newcommand {\floor }[1]{\left \lfloor #1 \right \rfloor }$$\newcommand {\ceil }[1]{\left \lceil #1 \right \rceil }$$\newcommand {\seg }[1]{\overline {#1}}$$\newcommand {\strahl }[1]{\overrightarrow {#1}}$$\newcommand {\ang }{\sphericalangle }$$\newcommand {\gang }{\angle }$$\newcommand {\paritaet }{\operatorname {par}}$$\newcommand {\drehw }{\operatorname {ang}}$$\newcommand {\vektor }[1]{\underline {#1}}$$\renewcommand {\vec }{\operatorname {vec}}$$\newcommand {\protect }[1]{}$

3.7 Drehwinkel

Algebraischer Winkel und gerade Bewegungen sind eng miteinander verknüpft. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass gerade Bewegungen (anders als ungerade) das algebraische Winkelmaß erhalten. Das legt nahe, Kongruenz von algebraischen Winkeln durch gerade Bewegungen zu definieren: wir sagen, dass zwei algebraische Winkel $\ang (s,t)$ und $\ang (u,v)$ kongruent sind, geschrieben $\ang (s,t) \equiv \ang (u,v)$, wenn es eine gerade Bewegung gibt, die den einen in den anderen überführt.

Dieser Begriff passt mit dem Maß von algebraischen Winkeln so zusammen, das algebraischen Winkel kongruent sind genau dann, wenn sie gleiches Maß haben.

Bemerkung 3.29. Genau genommen, ist das Attribut “algebraisch” keine Eigenschaft des Winkels sondern der Kongruenz-Beziehung. Man könnte also davon sprechen, dass zwei Winkel geometrisch kongruent oder algebraisch kongruent sind. Wir machen die Unterscheidung auf Ebene der Winkel um mit Tradition und früheren Vorlesungen konsistent zu sein.

Eine wichtige Eigenschaft von geraden Bewegungen und algebraischen Winkeln ist die folgende:

Proposition 3.30. Für einen Strahl $s$ und einen algebraischen Winkel $\ang (u,v)$ gibt es genau einen Strahl $t$, so dass $\ang (s,t) \equiv \ang (u,v)$.

Beweis. Sei $P$ der Ausgangspunkt von $s$, sei $u = \strahl {RS}$ und $v = \strahl {RT}$. Sei $\{Q\} = s \cap P_{RS}$. Sei $\tau $ die Verschiebung, die $R$ auf $P$ abbildet und $\rho $ die Drehung mit Fixpunkt $P$, die $\tau (R)$ auf $Q$ abbildet. Dann ist $s = \rho (\tau (s))$, also bildet $t = \rho (\tau (v))$ den gewünschten Winkel.

Wenn $\ang (s,t')$ ein weiterer solcher Winkel ist, gibt es eine gerade Bewegung $\varphi $, die $s$ festhält und $t$ auf $t'$ abbildet. Insbesondere ist also die von $s$ aufgespannte Gerade in der Fixpunktmenge von $\varphi $ und nach Proposition 3.12 ist $\varphi = \id $, also $t = t'$. □

Folgerung 3.31. Eine Drehung $\rho $ ist eindeutig festgelegt durch ihren Fixpunkt $P$ und den Winkel $\ang (s, \rho (s))$ für irgendeinen Strahl ab $P$.

Proposition 3.32. Für eine Drehung $\rho $ ist der Winkel $\ang (s,\rho (s))$ bis auf Kongruenz vom Strahl $s$ unabhängig.

Beweis. Sei $\rho $ eine Drehung und $s$ und $s'$ Strahlen ab dem Fixpunkt von $\rho $. Da $\rho $ eine gerade Bewegung ist, ist $\ang (s,s')$ kongruent zu $\ang (\rho (s),\rho (s'))$. Also ist

(s,ρ(s)) (s,s) + (s,ρ(s)) (ρ(s),ρ(s)) + (s,ρ(s)) (s,ρ(s))

wie behauptet. □

Wir nennen den Winkel $\ang (s,\rho (s))$ den Drehwinkel von $\rho $ und schreiben dafür $\drehw \rho $. Wenn $\alpha $ ein algebraischen Winkel ist, schreiben wir $\rho _{P,\alpha }$ um die Drehung mit Fixpunkt $P$ und Drehwinkel $\alpha $ zu bezeichnen.

Folgerung 3.33. Sei $P$ ein Punkt. Der Drehwinkel ist additiv: für Drehungen $\rho _1$ und $\rho _2$ mit Fixpunkt $P$ gilt $\ang (\rho _2\circ \rho _1) = \ang (\rho _2) + \ang (\rho _1)$.

Beweis. Sei $s$ ein Strahl ab $P$. Es ist

(s,ρ2(ρ1(s))) (s,ρ1(s))+(ρ1(s),ρ2(ψ(s))) (s,ρ1(s))+(s,ρ2(s)).

Die zweite Kongruenz gilt wegen Proposition 3.32. □

Wir haben eine eineindeutige Übersetzung zwischen Drehungen mit Fixpunkt $P$ und deren Drehwinkel erhalten. Wenn $\alpha _1$ und $\alpha _2$ algebraische Winkel sind, ist \[ \rho _{P,\alpha _1} \circ \rho _{P,\alpha _2} = \rho _{P,\alpha _1+\alpha _2} = \rho _{P,\alpha _2+\alpha _1} = \rho _{P,\alpha _2} \circ \rho _{P,\alpha _1}\text {,} \] also können Drehungen mit demselben Fixpunkt in beliebiger Reihenfolge komponiert werden.

Unser nächstes Ziel ist, den Drehwinkel unabhängig vom Fixpunkt zu identifizieren. Dazu definieren wir den algebraischen Winkel zwischen zwei beliebigen Strahlen $s$ und $t$, die nicht notwendigerweise den gleichen Ausgangspunkt haben. Sei $s$ ein Strahl ab $P$ und $t$ ein Strahl ab $Q$ und sei $\tau $ die Translation, die $Q$ auf $P$ abbildet. Wir definieren \[ \ang (s,t) \defeq \ang (s,\tau (t))\text {.} \]

Die folgende Proposition besagt im Wesentlichen, dass der Winkel nur bis auf Parallelität von den Strahlen abhängt, wenn wir verschobene Strahlen als parallel betrachten.

Proposition 3.34. Seien $s$ und $t$ Strahlen und $\tau _1$ und $\tau _2$ Verschiebungen. Es ist $\ang (\tau _1(s),\tau _2(t)) = \ang (s,t)$.

Beweis. Sei $P$ der Ausgangspunkt von $s$ und $Q$ der Ausgangspunkt von $t$ und sei $\tau $ die Verschiebung, die $Q$ auf $P$ abbildet. Dann ist $\tau ' = \tau _1 \circ \tau \tau _2^{-1}$ die Verschiebung, die $\tau _2(Q)$ auf $\tau _1(P) = \tau _1(\tau (Q))$ abbildet. Es ist (s,t) = (s,τ(t)) (τ1(s),τ1(τ(t))) = (τ1(s),τ(τ 2(t))) = (τ1(s),τ2(t)).

Hier gelten die erste und die letzte Gleichung nach Definition des Winkels. Die verbleibende Gleichung nach Definition von $\tau '$ und die Kongruenz weil die gerade Bewegung $\tau _1$ (herkömmliche) algebraische Winkel erhält. □

Folgerung 3.35. Für Strahlen $s,t,u$ gilt $\ang (s,u) = \ang (s,t) + \ang (t,u)$.

Beweis. Mit Proposition 3.34 können wir die Strahlen ohne Änderung der Winkel so verschieben, dass sie denselben Ausgangspunkt haben. In dem Fall ist die Aussage bekannt. □

Proposition 3.36. Seien $s$ und $t$ Strahlen und $\rho $ eine Drehung. Es ist $\ang (\rho (s),\rho (t)) = \ang (s,t)$.

Beweis. Sei $P$ der Ausgangspunkt von $s$ und $Q$ der Ausgangspunkt von $t$ und sei $\tau $ die Verschiebung, die $Q$ auf $P$ abbildet. Dann ist $\tau ' = \rho \circ \tau \circ \rho ^{-1}$ die Verschiebung, die $\rho (Q)$ auf $\rho (P)$ abbildet. (s,t) = (s,τ(t)) (τ1(s),τ1(τ(t))) = (τ1(s),τ(τ 2(t))) = (τ1(s),τ2(t)).

Hier gelten die erste und die letzte Gleichung nach Definition des Winkels. Die verbleibende Gleichung nach Definition von $\tau '$ und die Kongruenz weil die gerade Bewegung $\tau _1$ (herkömmliche) algebraische Winkel erhält. □

Folgerung 3.37. Gerade Bewegungen erhalten den (verallgemeinerten) algebraischen Winkel: wenn $\varphi $ eine gerade Bewegung ist, ist $\ang (\varphi (s),\varphi (t)) = \ang (s,t)$.

Beweis. Jede gerade Bewegung ist eine Verschiebung oder eine Drehung. Für Verschiebungen gilt die Aussage nach Proposition 3.34, für Drehungen nach Proposition 3.36. □

Wir definieren den Drehwinkel $\drehw \varphi $ einer geraden Bewegung $\varphi $ durch \[ \drehw \varphi = \gang (s, \varphi (s)) \] wobei $s$ irgendein Strahl ist.

Proposition 3.38. Der Drehwinkel ist wohldefiniert, d.h. $\gang (s,\varphi (s))$ hängt bis auf Kongruenz nicht von $s$ ab.

Der Beweis ist völlig Analog zu dem von Proposition 3.32.

Beweis. Sei $s'$ ein weiterer Strahl. Nach Folgerung 3.37 ist $\ang (s,s')$ kongruent zu $\ang (\rho (s),\rho (s'))$. Also ist

(s,φ(s)) (s,s)+(s,φ(s)) (φ(s),φ(s))+(s,φ(s)) (s,φ(s))

wie behauptet. □

Wie in Folgerung 3.35 erhalten wir:

Proposition 3.39. Der Drehwinkel ist additiv: $\drehw (\varphi \circ \psi ) = \drehw \varphi + \drehw \psi $.

Beweis. Sei $s$ ein Strahl. Es ist

(s,φ(ψ(s))) (s,ψ(s)) + (ψ(s),φ(ψ(s))) (s,ψ(s)) + (s,φ(s)).

Die erste Kongruenz gilt wegen Folgerung 3.35, die zweite wegen Folgerung 3.37. □

Folgerung 3.40. Wenn $\varphi $ eine gerade Bewegung ist, ist $\drehw \varphi ^{-1} = - \drehw \varphi $.

Beweis. Es ist $\varphi \circ \varphi ^{-1} = \id $ also $\drehw \varphi + \drehw \varphi ^{-1} = \drehw \id = 0^\circ $. □

Proposition 3.41. Eine gerade Bewegung $\varphi $ hat Drehwinkel $\drehw \varphi = 0^\circ $ genau dann, wenn $\varphi $ eine Verschiebung ist.

Beweis. Dass Verschiebungen Drehwinkel $0^\circ $ haben ist leicht zu sehen. Umgekehrt haben nicht-triviale Drehungen von $0^\circ $ verschiedenen Drehwinkel. □

Proposition 3.42. Sei $P$ ein Punkt. Jede gerade Bewegung $\psi $ lässt sich eindeutig schreiben als $\psi = \tau \circ \rho $ wobei $\tau $ eine Verschiebung ist und $\rho $ eine Drehung mit Fixpunkt $P$. Genauer ist $\rho $ die Drehung mit Drehwinkel $\drehw \psi $.

Beweis. Wenn $\rho $ die Drehung mit Fixpunkt $P$ und Drehwinkel $\drehw \psi $ ist, hat die Bewegung $\tau = \psi \circ \rho ^{-1}$ Drehwinkel

angτ = angψ + ang(ρang ψ1) = angψ angρ ang ψ = angψ angψ = 0,

ist also eine Verschiebung.

Umgekehrt muss die Drehung $\rho $ den gleichen Drehwinkel haben wie $\psi $, da Verschiebungen Drehwinkel $0^\circ $ haben. □

Damit ist jede gerade Bewegung beschrieben durch einen Verschiebungsvektor und einen Drehwinkel. Es bleibt, mit ungeraden Bewegungen umzugehen.