$\newcommand {\N }{\mathbb {N}}$$\newcommand {\Z }{\mathbb {Z}}$$\newcommand {\Q }{\mathbb {Q}}$$\newcommand {\R }{\mathbb {R}}$$\newcommand {\E }{\mathbb {E}}$$\newcommand {\id }{\operatorname {id}}$$\newcommand {\Isom }{\operatorname {Isom}}$$\newcommand {\defeq }{\mathrel {\mathop {:}}=}$$\newcommand {\eqdef }{=\mathrel {\mathop {:}}}$$\newcommand {\abs }[1]{\lvert #1 \rvert }$$\newcommand {\floor }[1]{\left \lfloor #1 \right \rfloor }$$\newcommand {\ceil }[1]{\left \lceil #1 \right \rceil }$$\newcommand {\seg }[1]{\overline {#1}}$$\newcommand {\strahl }[1]{\overrightarrow {#1}}$$\newcommand {\ang }{\sphericalangle }$$\newcommand {\gang }{\angle }$$\newcommand {\paritaet }{\operatorname {par}}$$\newcommand {\drehw }{\operatorname {ang}}$$\newcommand {\vektor }[1]{\underline {#1}}$$\renewcommand {\vec }{\operatorname {vec}}$$\newcommand {\protect }[1]{}$

3.2 Spiegelungen, gerade und ungerade Bewegungen

Proposition 3.5. Seien $\sigma _\ell $ und $\sigma _m$ Spiegelungen an Geraden $\ell $ und $m$. Wenn $\ell $ und $m$ parallel sind, dann ist $\sigma _m \circ \sigma _\ell $ eine Verschiebung. Wenn sich $\ell $ und $m$ in einem Punkt $P$ schneiden, ist $\sigma _m \circ \sigma _\ell $ eine Drehung um $P$.

Beweis. Sei $\varphi = \sigma _\ell \circ \sigma _m$.

Wir nehmen zunächst an, dass $\ell $ und $m$ parallel sind. Wenn $\ell = m$ ist die Aussage trivial, also nehmen wir an, dass $\ell \ne m$. Sei $g$ eine beliebige Gerade. Wir wollen zeigen, dass $\varphi (g)$ parallel zu $g$ ist. Wenn $g$ parallel zu $\ell $ und $m$ ist, ist dies einfach zu sehen, weil dann $\sigma _\ell (g)$ auch parallel zu $\ell $ und $m$ ist. Andernfalls sei $S$ der Schnittpunkt von $g$ und $\ell $ und $T$ der Schnittpunkt von $\sigma _\ell (g)$ und $m$. Seien außerdem $L \in \ell $ und $M \in m$ Punkte auf unterschiedlichen Seiten von $\sigma _\ell (g)$. Sei $G \in g$ ein Punkt im von $T$ abgewandten Halbraum von $m$. Jetzt sind die Winkel $\gang GSL$ und $\gang TSL = \gang \sigma _\ell (G)SL$ kongruent, weil $\sigma _\ell $ eine Spiegelung ist. Nach Proposition 2.3 sind die wechselseitigen Winkel $\gang TSL$ und $\gang STM$ kongruent. Schließlich sind die Winkel $\gang STM$ und $\gang \sigma _m(S)TM$ kongruent weil $\sigma _m$ eine Spiegelung ist. Aus Übung 2 folgt, dass $g = GS$ und $\sigma _\ell \circ \sigma _m(g) = T\sigma _m(S)$ parallel sind.

Sei jetzt $P$ ein Punkt. Wir wollen zeigen, dass $P$ kein Fixpunkt von $\varphi $ ist. Ein Fixpunkt von $\varphi $ erfüllt $\sigma _\ell \circ \sigma _m(P) = P$. Komposition mit $\sigma _\ell $ ergibt die äquivalente Bedingung $\sigma _m(P) = \sigma _\ell (P)$. Wir wollen also zeigen, dass kein Punkt diese Gleichung erfüllt. Sei dazu $h$ die Gerade senkrecht zu $\ell $ und $m$ durch $P$. Sei $A$ der Schnittpunkt von $h$ und $\ell $ und $B$ der Schnittpunkt von $h$ und $m$. Es ist $\abs {P\sigma _\ell (P)} = 2\abs {PA}$ und $\abs {P\sigma _m(P)} = 2\abs {PB}$. Wir unterscheiden drei Fälle je nachdem in welchen Halbräumen von $\ell $ und $m$ der Punkt $P$ liegt. Wenn $P$ im Streifen zwischen $\ell $ und $m$ liegt, ist $\sigma _\ell (P) \ne \sigma _m(P)$ weil die Spiegelungen $P$ in den jeweils abseitigen Halbraum abbilden und diese Halbräume sich trivial schneiden. Wenn $P$ in dem Halbraum von $\ell $ liegt, der $m$ nicht enthält, ist $\abs {P\sigma _\ell (P)} < \abs {P\sigma _m(P)}$, also ist $\sigma _\ell (P) \ne \sigma _m(P)$. Wenn umgekehrt $P$ im Halbraum von $m$ liegt, der $\ell $ nicht enthält, ist $\abs {P\sigma _\ell (P)} > \abs {P\sigma _m(P)}$, also wieder $\sigma _\ell (P) \ne \sigma _m(P)$.

Nehmen wir jetzt an, dass sich $\ell $ und $m$ in einem Punkt $P$ schneiden. Dann ist offensichtlich $P$ ein Fixpunkt von $\varphi $. Dass es keinen weiteren Fixpunkt $Q$ gibt, skizzieren wir nur. Für einen solchen würde wieder gelten $\sigma _\ell (Q) = \sigma _m(Q)$. Die Menge der Punkte mit $\abs {Q\sigma _\ell (Q)} = \abs {Q\sigma _m(Q)}$ besteht aber aus den beiden Winkelhalbierenden von $\ell $ und $m$. Diese schließen mit $\ell $ und $m$ keinen rechten Winkel ein und werden deshalb nicht auf sich selbst abgebildet (außer im Fall wo $\ell = m$ und eine der Winkelhalbierenden gleich $\ell = m$ ist und die andere das Lot in $P$). □

Proposition 3.6. Jede Verschiebung und jede Drehung ist die Komposition zweier Spiegelungen.

Beweis. Sei $\tau $ eine Verschiebung, sei $P$ beliebig und sei $Q = \tau (P)$. Sei $M$ der Mittelpunkt von $\seg {PQ}$. Sei $m$ die Senkrechte zu $PQ$ durch $M$ und sei $\ell $ die Senkrechte zu $PQ$ durch $Q$. Da $m$ und $\ell $ parallel zueinander sind, ist $\sigma _\ell \circ \sigma _m$ nach Proposition 3.5 eine Verschiebung. Außerdem ist $\sigma _\ell (\sigma _m(P)) = \sigma _\ell (Q) = Q$. Wegen der Eindeutigkeit in Axiom 5(1) ist $\tau = \sigma _\ell \circ \sigma _m$.

Sei jetzt $\rho $ eine Drehung mit Fixpunkt $M$, sei $P \ne M$ und sei $Q = \rho (P)$. Sei $m$ die Winkelhalbierende von $\gang PMQ$ und sei $\ell = MQ$. Da sich $m$ und $\ell $ in $M$ schneiden, ist nach Proposition 3.5 ist $\sigma _\ell \circ \sigma _m$ eine Drehung. Offensichtlich ist $\sigma _\ell (\sigma _m(M)) = M$. Außerdem ist $\sigma _\ell (\sigma _m(P)) = \sigma _\ell (Q) = Q$. Aus der Eindeutigkeit in Axiom 5(2) folgt, dass $\rho = \sigma _\ell \circ \sigma _m$. □

Satz 3.7. Jede Bewegung ist eine Komposition von Spiegelungen.

Beweis. Im Beweis von Satz 1.9 haben wir gesehen, dass jede Bewegung eine Komposition $\varphi = \sigma \circ \rho \circ \tau $ einer Verschiebung $\tau $, einer Drehung $\rho $ und einer Spiegelung $\sigma $ ist. Nach Proposition 3.6 sind aber $\rho = \sigma ' \circ \sigma ''$ und $\tau = \sigma ''' \circ \sigma ''''$ Kompositionen von Spiegelungen. Also ist $\varphi = \sigma \circ \sigma ' \circ \sigma '' \circ \sigma '' \circ \sigma ''''$ eine Komposition von Spiegelungen. □

Eine Bewegung ist gerade, wenn sie die Komposition einer geraden Anzahl von Spiegelungen ist. Sie ist ungerade, wenn sie die Komposition einer ungeraden Anzahl von Spiegelungen ist. Ungerade Bewegungen sind diejenigen, die im Uhrzeigersinn beschriftete Dreiecke auf in im Gegenuhrzeigersinn beschriftete Dreiecke abbilden, die lesbare Schrift auf spiegelverkehrte Schrift abbilden, und die algebraische Winkelmaße auf ihr negatives abbilden. Insbesondere erhalten gerade Bewegungen algebraische Winkelmaße.

Beispiel 3.8. Drehungen und Verschiebungen sind gerade Bewegungen. Spiegelungen sind ungerade Bewegungen.

Da „gerade plus gerade gleich gerade“, „ungerade plus ungerade gleich gerade“, „gerade plus ungerade gleich ungerade“ ist, erhalten wir:

Proposition 3.9. Die Komposition von zwei geraden Bewegungen ist gerade. Die Komposition von zwei ungeraden Bewegungen ist gerade. Die Komposition einer geraden und einer ungeraden (oder einer ungeraden und einer geraden) Bewegung ist ungerade.

Folgerung 3.10. Die Menge der geraden Bewegungen ist eine Gruppe.

Bemerkung 3.11. Wie schon angemerkt hießen unsere Bewegungen bei Herrn Bauer Isometrien. Unsere geraden Bewegungen sind nun gerade das, was bei Herrn Bauer Bewegungen hieß.

Proposition 3.12. Die Fixpunktmenge einer geraden Bewegung ist entweder leer, ein einziger Punkt, oder die ganze Ebene.

Beweis. Nach Proposition 1.5 ist die Fixpunktmenge einer beliebigen Bewegung eins von den genannten oder eine Gerade. Wenn die Fixpunktmenge eine Gerade ist, ist die Bewegung aber eine Spiegelung und damit ungerade. □