$\newcommand {\N }{\mathbb {N}}$$\newcommand {\Z }{\mathbb {Z}}$$\newcommand {\Q }{\mathbb {Q}}$$\newcommand {\R }{\mathbb {R}}$$\newcommand {\E }{\mathbb {E}}$$\newcommand {\id }{\operatorname {id}}$$\newcommand {\Isom }{\operatorname {Isom}}$$\newcommand {\defeq }{\mathrel {\mathop {:}}=}$$\newcommand {\eqdef }{=\mathrel {\mathop {:}}}$$\newcommand {\abs }[1]{\lvert #1 \rvert }$$\newcommand {\floor }[1]{\left \lfloor #1 \right \rfloor }$$\newcommand {\ceil }[1]{\left \lceil #1 \right \rceil }$$\newcommand {\seg }[1]{\overline {#1}}$$\newcommand {\strahl }[1]{\overrightarrow {#1}}$$\newcommand {\ang }{\sphericalangle }$$\newcommand {\gang }{\angle }$$\newcommand {\paritaet }{\operatorname {par}}$$\newcommand {\drehw }{\operatorname {ang}}$$\newcommand {\vektor }[1]{\underline {#1}}$$\renewcommand {\vec }{\operatorname {vec}}$$\newcommand {\protect }[1]{}$

4.1 Längenverhältnisse

Zahlen treten in der Geometrie natürlich auf als Verhältnisse von Längen: wenn $P,Q,R,S$ Punkte sind mit $R \ne S$, gibt es eine Zahl $a$, sodass $\abs {PQ} = a \cdot \abs {RS}$. Selbst wenn man sich nur für den Fall interessiert, wo $b = \abs {PQ}$ und $c = \abs {RS}$ natürliche Zahlen sind, also $0, 1, 2, 3, \ldots $, sieht man, dass $a$ im Allgemeinen eine rationale Zahl sein kann, ein Bruch, nämlich $a = b/c$.

Für uns sind also Zahlen Längenverhältnisse. Jede Länge kann mit einer beliebigen Zahl multipliziert werden im folgenden Sinn:

Problem 4.1. Sei $\strahl {OI}$ ein Strahl und seien $P_1, Q_1, Q_2 \in \strahl {OI}$ Punkte mit $Q_1 \ne O$. Konstruiere den Punkt $P_2$ mit $\abs {OP_2} = \abs {OP_1}/\abs {OQ_1} \cdot \abs {OQ_2}$.

Um dieses Konstruktionsproblem zu lösen brauchen wir den Strahlensatz.

Satz 4.2 (1. Strahlensatz). Seien $g$ und $h$ Geraden die sich in einem Punkt $Z$ schneiden und seien $\ell $ und $m$ Geraden, die nicht durch $Z$ gehen und weder zu $g$ noch zu $h$ parallel sind. Seien $\{P\} = g \cap \ell $, $\{P'\} = g \cap m$, $\{Q\} = h \cap \ell $, $\{Q'\} = h \cap m$. Wenn $\ell $ und $m$ parallel sind, dann ist

|PZ| |PZ| = |QZ| |QZ|. (4.1)

Wenn (4.1) gilt, dann sind $\ell $ und $m$ parallel.


PIC

Abbildung 16: Die Strahlensätze: $\abs {P'Z}/\abs {PZ} = \abs {Q'Z}/\abs {QZ}$, $\abs {P'Q'}/\abs {P'Z} = \abs {PQ}/\abs {PZ}$ und $\abs {P'Q'}/\abs {P'R'} = \abs {PQ}/\abs {PR}$.


Beweis. Wir nehmen an, dass $\ell $ und $m$ parallel sind und zeigen zunächst, dass

|PP| |PZ| = |QQ| |QZ|. (4.2)

Sei dazu $L_P$ der Lotfußpunkt von $P$ auf $h$ und $L_Q$ der Lotfußpunkt von $Q$ auf $g$. Der Flächeninhalt von $ZPQ$ ist also $1/2\cdot \abs {ZQ}\cdot \abs {QL_Q} = 1/2\cdot \abs {ZP}\cdot \abs {PL_P}$. Außerdem ist der Flächeninhalt von $PQQ'$ gleich $1/2\cdot \abs {QQ'}\cdot \abs {QL_Q}$ und der Flächeninhalt von $PQP'$ gleich $1/2 \cdot \abs {PP'} \cdot \abs {PL_P}$. Wenn wir zeigen können, dass die letzten beiden Dreiecke gleichen Flächeninhalt haben, kürzen sich beim Verhältnis der Dreiecke die Höhen und wir erhalten (4.2). Die beiden Dreiecke $PQQ'$ und $PQP'$ haben aber gleichen Flächeninhalt nach Folgerung 2.9 weil sie Grundseite $PQ$ haben und zwischen zwei parallelen Geraden liegen.

Aus Gleichung (4.2) folgt (4.1), weil $\pm \abs {P'P} \pm \abs {PZ} = \abs {P'Z} $ und $\pm \abs {Q'Q} \pm \abs {QZ} = \abs {Q'Z}$. Die Vorzeichen hängen davon ab, in welcher Reihenfolge $Z,P,P'$ und $Z,Q,Q'$ auf $g$ bzw. $h$ liegen. Die Reihenfolge ist aber die gleiche, weil $\ell $ und $m$ parallel sind. Also ist

|PZ|_____ |PZ| = ±|PP| |PZ| ±|PZ| |PZ| = ±|PP| |PZ| ± 1 = ±|QQ| |QZ| ± 1 = ±|QQ| |QZ| ±|QZ| |QZ| = |QZ| |QZ|(4.3)

Wenn umgekehrt (4.1) gilt, dann zeigt eine ähnliche Umformung wie (3), dass auch (4.2) gilt. Diesmal sind die Vorzeichen die gleichen, weil alle beteiligten Terme nicht-negativ sind und dies die Vorzeichen eindeutig festlegt. Aus (4.2) folgt, dass die Verhältnisse der Flächeninhalte der Dreiecke gleich sind und somit die Dreiecke $PQQ'$ und $PQP'$ die gleiche Höhe haben. Damit ist aber $P'Q'$ parallel zu $PQ$. □

Bemerkung 4.3. Im Beweis des Strahlensatzes haben wir gesehen, dass man die Gleichung (4.1) auch durch (4.2) ersetzen kann. Aus denselben Gründen kann man sie auch durch die dritte Variante

|PP| |PZ| = |QQ| |QZ| (4.4)

ersetzen.

Konstruktion. Sei $I'$ nicht auf $OI$. Sei $\{Q_1'\} = O_{Q_1} \cap \strahl {OI'}$ und $\{Q_2'\} = O_{Q_2} \cap \strahl {OI'}$. Sei $g_1 = Q_1'P_1$ und sei $g_2$ die Parallele zu $g_1$ durch $Q_2'$. Der Schnittpunkt $P_2$ von $g_2$ und $\strahl {OI}$ ist der gesuchte Punkt. $\Diamond $

Beweis. Nach dem Strahlensatz ist $\abs {OP_1}/\abs {OQ_1'} = \abs {OP_2}/\abs {OQ_2'}$. Die Behauptung folgt weil $\abs {OQ_1} = \abs {OQ_1'}$ und $\abs {OQ_2} = \abs {OQ_2'}$. □

Bemerkung 4.4. Man kann Längenverhältnisse und Längen ineinander übersetzen, wenn man eine Referenzlänge einführt, die man sich als Einheitslänge denkt. Die Einheitslänge werden wir typischerweise durch ein Segment $\seg {OI}$ repräsentieren ($O$ für $0$ und $I$ für $1$). Dann kann man die Länge $\abs {PQ}$ mit dem Längenverhältnis $\abs {PQ}/\abs {OI}$ identifizieren und umgekehrt.

In algebraischer Sprache ausgedrückt sagt die Lösung von Problem 4.1, dass man durch Konstruktion lineare Gleichungen lösen kann: wenn $a$ und $b$ Längen (oder Längenverhältnisse) sind, kann man ein Längenverhältnis $x$ konstruieren, so dass \[ a \cdot x = b\text {.} \]

Neben dem Strahlensatz 4.2, der über Längenverhältnisse entlang der Strahlen spricht, gibt es noch zwei weitere Strahlensätze, die Verhältnisse auf den parallelen Geraden betreffen. Sie lassen sich aus Satz 4.2 herleiten.

Folgerung 4.5 (2. Strahlensatz). Seien die Punkte und Geraden wie im 1. Strahlensatz und seien $\ell $ und $m$ parallel. Dann ist

|PQ| |ZP| = |PQ| |ZP|.

Beweis. Sei $h'$ die Parallele zu $h$ durch $P$ und $G$ der Schnittpunkt von $h'$ mit $m$. Wir wenden den 1. Strahlensatz (in der Formulierung (4.4)) mit Zentrum $P'$ an. Es ist $\abs {ZP}/\abs {ZP'} = \abs {Q'G}/\abs {Q'P'}$. Da $PQQ'G$ ein Parallelogramm ist, ist $\abs {Q'G} = \abs {PQ}$ und die Behauptung folgt. □

Folgerung 4.6 (3. Strahlensatz). Seien die Punkte und Geraden wie im 1. Strahlensatz und seien $\ell $ und $m$ parallel. Sei $i$ eine weitere Gerade durch $Z$, die $\ell $ und $m$ in Punkten $R$ und $R'$ schneidet. Dann ist

|PQ| |PR| = |PQ| |PR|.

Beweis. Wir wenden zweimal den 2. Strahlensatz an und erhalten

|PQ| |PZ| = |PQ| |PZ|und|PR| |PZ| = |PR| |PZ|.

Umformen ergibt $\abs {PQ}/\abs {P'Q'} = \abs {PZ}/\abs {P'Z} = \abs {PR}/\abs {P'R'}$ und die Behauptung folgt. □