$\newcommand {\N }{\mathbb {N}}$$\newcommand {\Z }{\mathbb {Z}}$$\newcommand {\Q }{\mathbb {Q}}$$\newcommand {\R }{\mathbb {R}}$$\newcommand {\E }{\mathbb {E}}$$\newcommand {\id }{\operatorname {id}}$$\newcommand {\Isom }{\operatorname {Isom}}$$\newcommand {\defeq }{\mathrel {\mathop {:}}=}$$\newcommand {\eqdef }{=\mathrel {\mathop {:}}}$$\newcommand {\abs }[1]{\lvert #1 \rvert }$$\newcommand {\floor }[1]{\left \lfloor #1 \right \rfloor }$$\newcommand {\ceil }[1]{\left \lceil #1 \right \rceil }$$\newcommand {\seg }[1]{\overline {#1}}$$\newcommand {\strahl }[1]{\overrightarrow {#1}}$$\newcommand {\ang }{\sphericalangle }$$\newcommand {\gang }{\angle }$$\newcommand {\paritaet }{\operatorname {par}}$$\newcommand {\drehw }{\operatorname {ang}}$$\newcommand {\vektor }[1]{\underline {#1}}$$\renewcommand {\vec }{\operatorname {vec}}$$\newcommand {\protect }[1]{}$

4.2 Ähnlichkeiten

Wenn Zahlen als Längenverhältnisse auftreten, ist es natürlich, statt Bewegungen (Abbildungen, die Längen respektieren), Abbildungen zu betrachten, die Längenverhältnisse respektieren. Diese heißen Ähnlichkeiten. Eine bijektive Abbildung $\varphi \colon \E ^2 \to \E ^2$ heißt Ähnlichkeit wenn für beliebige vier Punkte $P,Q,R,S$ gilt

|PQ||φ(R)φ(S)| = |RS||φ(P)φ(Q)|. (4.5)

Die Gleichung (4.5) ist äquivalent zu den Gleichungen

|PQ| |RS| = |φ(P)φ(Q)| |φ(R)φ(S)|und |RS| |PQ| = |φ(R)φ(S)| |φ(P)φ(Q)| (4.6)

wann immer diese definiert sind, Ähnlichkeiten erhalten also Längenverhältnisse.

Die Gleichung (4.5) hat gegenüber (4.6) den Vorteil, dass die immer sinnvoll ist, auch wenn $P = Q$ oder $R = S$. Die Gleichungen (4.6) hat dagegen den Vorteil, näher an unserer Anschauung zu sein. Wir werden häufig über Längenverhältnisse sprechen und diese typischerweise als Brüche wie (4.6) schreiben, dabei aber daran denken, dass wir aus dem Fall, wo die Nenner $0$ sind, Sinn geben können, indem wir die Gleichung wie (4.5) umformen.

Zwei Figuren $f$ und $f'$ heißen ähnlich, geschrieben $f \sim f'$, wenn es eine Ähnlichkeit $\varphi $ gibt, die $f$ auf $f'$ abbildet: $\varphi (f) = f'$.

Proposition 4.7. Die Komposition von zwei Ähnlichkeiten ist eine Ähnlichkeit. Die Inverse einer Ähnlichkeit ist eine Ähnlichkeit.

Beweis. Seien $P \ne Q$ und $R \ne S$ Punkte. Wenn $\varphi $ und $\psi $ Ähnlichkeiten sind ist

|ψ(φ(P))ψ(φ(Q))| |ψ(φ(R))ψ(φ(S))| = |φ(P)φ(Q)| |φ(R)φ(S)| = |PQ| |RS|

also ist $\psi \circ \varphi $ eine Ähnlichkeit.

Wenn $\varphi $ eine Ähnlichkeit ist, wenden wir (4.5) auf die Punkte $\varphi ^{-1}(P)$, $\varphi ^{-1}(Q)$, $\varphi ^{-1}(R)$ und $\varphi ^{-1}(S)$ an und erhalten

|PQ| |RS| = |φ(φ1(P))φ(φ1(Q)| |φ(φ1(R))φ(φ1(S))| = |φ1(P)φ1(Q)| |φ1(R)φ1(S)|

also ist $\varphi ^{-1}$ eine Ähnlichkeit. □

Folgerung 4.8. Die Menge der Ähnlichkeiten ist eine Gruppe.

Sei $M$ ein Punkt und $P$ und $Q$ zwei von $M$ verschiedene Punkte auf einem Strahl ab $M$. Mit anderen Worten sind $M$, $P$, $Q$ kollinear und $M$ liegt nicht zwischen $P$ und $Q$. Die Abbildung $\varphi \colon \E ^2 \to \E ^2$ die jeden Strahl ab $M$ invariant lässt und jeden Punkt $R \ne M$ auf einen Punkt $\varphi (T)$ mit $\abs {M\varphi (R)}/\abs {MR} = \abs {MQ}/\abs {MP}$ abbildet ist eine Streckung mit Zentrum $M$ und Streckungsfaktor $\abs {MQ}/\abs {MP}$.

Proposition 4.9. Streckungen sind Ähnlichkeiten.

Beweis. Sei $\alpha $ die Streckung mit Mittelpunkt $M$ und Streckungsfaktor $x = \abs {MQ}/\abs {MP}$. Seien $R$ und $S$ beliebige Punkte. Wir müssen zeigen, dass $\abs {\alpha (R)\alpha (S)}/\abs {RS} = x$ ist. Nach Definition von Streckungen ist $\abs {M\alpha {R}}/\abs {MR} = x = \abs {M\alpha {S}}/\abs {MS}$. Aus dem zweiten Punkt des Strahlensatzes folgt, dass $RS$ und $\alpha (R)\alpha (S)$ parallel sind. Aus dem 2. Strahlensatz folgt dann, dass $\abs {\alpha (R)\alpha (S)}/\abs {M\alpha (R)} = \abs {RS}/\abs {MR}$. Umformen ergibt $\abs {\alpha (R)\alpha (S)}/\abs {RS} = \abs {M\alpha (R)}/\abs {MR} = x$. □

Proposition 4.10. Jede Ähnlichkeit $\varphi $ kann geschrieben werden als Komposition $\varphi = \iota \circ \alpha $ einer Streckung $\alpha $ und einer Bewegung $\iota $. Das Zentrum der Streckung kann dabei beliebig gewählt werden.

Beweis. Sei $M$ ein beliebiger Punkt. Sei $P \ne M$ beliebig und sei $Q \in \strahl {MP}$ der Punkt mit $\abs {MQ} = \abs {\varphi (M)\varphi (P)}$. Sei $\alpha $ die Streckung mit Zentrum $M$, die $P$ auf $Q$ abbildet. Für irgend Punkte $A \ne B$ und $C \ne D$ gilt dann

|φ(A)φ(B)| |AB| = |φ(M)φ(P)| |MP| = |MQ| |MP| = |α(C)α(D)| |CD| . (4.7)

Wir definieren $\iota \defeq \alpha ^{-1} \circ \varphi $, so dass gilt $\varphi = \alpha \circ \iota $. Wenn wir in (4.7) $C = \iota (A))$ und $D = \iota (B))$ setzen, erhalten wir

|φ(A)φ(B)| |AB| = |α(α1(φ(A)))α(α1(φ(B)))| |ι(A)ι(B)| = |φ(A)φ(B)| |ι(A)ι(B)| .

Umformen ergibt, dass $\abs {\iota (A)\iota (B)} = \abs {AB}$. Wir sehen also, dass $\iota $ eine Bewegung ist. □

Folgerung 4.11. Ähnliche Winkel sind kongruent: Wenn $\gang (s,t)$ ein Winkel ist und $\alpha $ eine Ähnlichkeit, dann ist $\gang (s,t) \equiv \gang (\alpha (s),\alpha (t))$.

Beweis. Sei $Z$ der Scheitel von $\gang (s,t)$. Mit Proposition 4.10 schreiben wir $\alpha $ als Komposition einer Streckung mit Zentrum $Z$ und einer Bewegung. Die Streckung bildet $\gang (s,t)$ auf sich selbst ab und die Bewegung auf einen kongruenten Winkel. □

Der folgende Satz illustriert den Zusammenhang zwischen Winkeln und Längenverhältnissen (statt Längen): es gibt keinen Kongruenzsatz „WWW“, aber einen Ähnlichkeitzsatz „WWW“.

Satz 4.12 (Ähnlichkeitssatz „WWW“). Wenn $PQR$ und $P'Q'R'$ Dreiecke sind mit $\gang {RPQ} = \gang {R'P'Q'}$, $\gang {PQR} \equiv \gang {P'Q'R'}$ und $\gang {QRP} \equiv \gang {Q'R'P'}$, dann ist $PQR$ ähnlich zu $P'Q'R'$.

Beweis. Sei $\iota $ die Bewegung, die $\gang {RPQ}$ auf $\gang {R'P'Q'}$ abbildet. Wir ersetzen $PQR$ durch sein Bild unter $\iota $ und können also annehmen, dass $\gang {RPQ} = \gang {R'P'Q'}$ ist. Da die beiden innen liegenden Winkel $\gang {PQR}$ und $\gang {P'Q'R'}$ kongruent sind, folgt aus Proposition 2.3, dass $QR$ und $Q'R'$ parallel sind. Mit dem Strahlensatz folgt

|PR| |PR| = |PQ| |PQ|.

Ist also $\alpha $ die Streckung mit Zentrum $P$ und Streckungsfaktor $\abs {P'R'}/\abs {PR}$, dann ist $\alpha (PQR) = P'Q'R'$ wie gewünscht. □

Bemerkung 4.13. Im Beweis von Satz 4.12 haben wir die Kongruenz des dritten Paares von Winkeln gar nicht benutzt. Tatsächlich liefert diese aber auch keine zusätzliche Information, weil der dritte Winkel bereits durch die Winkelsumme im Dreieck festgelegt ist (Proposition 1.22). Es handelt sich also genau genommen um einen Ähnlichkeitssatz „WW“.