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4.4 Der goldene Schnitt

Ein goldenes Rechteck ist ein Rechteck, von dem man ein Quadrat abziehen kann, so dass das resultierende Rechteck ähnlich zum ursprünglichen ist. Das heißt, $PQRS$ ist ein goldenes Rechteck, wenn $\abs {PQ} > \abs {QR}$ und das Rechteck $PTUS$, das durch abziehen des Quadrats $TQRU$ entsteht ähnlich zu $PQRS$ ist. Rechtecke sind ähnlich, wenn ihre Seitenlängen das gleiche Verhältnis haben. Damit $PQRS$ golden ist muss also \[ \frac {\abs {PQ}}{\abs {QR}} = \frac {\abs {PQ}}{\abs {PT}} = \frac {\abs {PQ}}{\abs {PQ} - \abs {QR}} \] sein.

Setzen wir $\varphi = \abs {PQ}/\abs {QR}$ erhalten wir die Gleichung

φ = 1 φ 1. (4.9)

Die Lösung $\varphi > 1$ dieser Gleichung ist der goldene Schnitt. Er spielt in der Kunst und Architektur eine wichtige Rolle (Abbildung 17).


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Abbildung 17: Der goldene Schnitt in Kunst und Architektur. Links da Vincis Vitruvianischer Mensch, rechts das Pantheon in Athen.


Lösen der Gleichung (4.9) ergibt \[ \varphi = \frac {\sqrt {5}+1}{2}\quad \text {und} \quad \frac {1}{\varphi } = \varphi - 1 = \frac {\sqrt {5}-1}{2}\text {.} \]


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Abbildung 18: Ein goldenes Rechteck (links) und ein DIN-Rechteck (rechts). Das Rechteck links ist golden, weil $ABCD$ kongruent zu $ECDF$ ist. Das Rechteck rechts ist DIN weil $KLMN$ kongruent zu $OMQR$ ist. Außerdem ist $KLMN$ kongruent zu $KLST$. Auch der Rand der Abbildung ist golden und die umgebende Seite (in der PDF-Version) ist DIN.


Man sagt, dass ein Punkt $T$ ein Segment $\seg {PQ}$ im goldenen Schnitt teilt, wenn $\seg {PQ}/\seg {PT} = \varphi $, d.h. wenn gillt \[ \frac {\abs {PQ}}{\abs {PT}} = \frac {\abs {PT}}{\abs {PQ} - \abs {PT}}\text {.} \]

Ein DIN-Rechteck ist ein Rechteck, von dem man ein Quadrat abziehen kann, dann noch einmal ein Quadrat abziehen, so dass das daraus resultierende Rechteck ähnlich zum ursprünglichen ist. Wenn das große Rechteck Seitenlängen $\abs {PQ} > \abs {QR}$ hat, hat sind die Seitenlängen des kleinen Rechtecks $\abs {PQ} - \abs {QR}$ und $\abs {QR} - (\abs {PQ} - \abs {QR}) = 2\abs {QR} - \abs {PQ}$.

Das heißt, das Seitenverhältnis $\delta \defeq \abs {PQ}/\abs {QR}$ erfüllt \[ \delta = \frac {\abs {PQ}}{\abs {QR}} = \frac {2\abs {QR} - \abs {PQ}}{\abs {PQ}- \abs {QR}} = \frac {2 - \delta }{\delta -1}\text {.} \] Diese Gleichung kann man umformen zu $\delta ^2 = 2$. Wir nennen die positive Lösung $\delta = \sqrt {2}$ den DIN-Schnitt.

Die definierende Gleichung für $\delta $ kann man weiter umformen zu $\delta = 2/\delta $ oder \[ \frac {\abs {PQ}}{\abs {QR}} = \frac {\abs {QR}}{\frac {1}{2}\abs {PQ}}\text {.} \]

Das heißt, DIN-Rechtecke sind auch genau diejenigen Rechtecke, deren Hälfte ähnlich zum ursprünglichen Rechteck ist.

Beispiel 4.15. DIN-Rechtecke treten auf in Form von Blättern im DIN-A-Format. Dieses ist definiert durch die Bedingung, dass das Seitenverhältnis $\sqrt {2}$ ist, DIN-A0 einen Quadratmeter groß ist, und DIN-A(n+1) die Hälfte von DIN-A(n) ist. Insbesondere hat also ein DIN-A(n)-Blatt eine Fläche von $2^{-n}\,\mathrm {m}^2$.

Ein goldenes Dreieck ist ein gleichschenkliges Dreieck $ABC$ mit $\abs {AB} = \abs {AC}$ und $\abs {AB}/\abs {BC} = \varphi $ (spitzwinklig) oder $\abs {BC}/\abs {AB} = \varphi $ (stumpfwinklig).

Ein DIN-Dreieck ist ein gleichschenkliges Dreieck $ABC$ mit $\abs {AB} = \abs {AC}$ und $\abs {AB}/\abs {BC} = \delta $ (spitzwinklig) oder $\abs {BC}/\abs {AB} = \delta $. Im zweiten Fall ist $\abs {AB}^2 + \abs {AC}^2 = 2 \abs {AB}^2 = \abs {BC}^2$, das heißt, es handelt sich um ein rechtwinkliges, gleichschenkliges Dreieck.

Ein rechtwinkliges, gleichschenkliges Dreieck lässt sich zerlegen in zwei rechtwinklige, gleichschenklige Dreiecke. Aus dieser Eigenschaft allein können wir bereits die Winkel rekonstruieren: Wenn ein gleichschenkliges Dreieck Winkel $\alpha , \alpha , \beta $ hat und sich in zwei zum ursprünglichen Dreieck ähnliche Dreiecke zerlegen lässt, ist $\beta = 2 \alpha $ und damit wegen der Winkelsumme im Dreieck \[ \alpha = 45^\circ \quad \text {und} \quad \beta = 90^\circ . \]


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Abbildung 19: Ein spitzwinkliges und ein stumpfwinkliges goldenes Dreieck.


Durch Probieren stellt man fest, dass etwas ähnliches auch für goldene Dreiecke gilt:

Satz 4.16. Jedes goldene Dreieck lässt sich zerlegen in ein spitzwinkliges und ein stumpfwinkliges goldenes Dreieck.

Der Beweis ist einer der Höhepunkte von Euklids Elementen. Wir verschieben ihn auf später. Jetzt beobachten wir einige wichtige Konsequenzen: bezeichnen wir die Winkel des spitzen goldenen Dreiecks mit $\alpha , \beta , \beta $ und die des stumpfen goldenen Dreiecks mit $\alpha , \alpha , \gamma $. Dabei haben wir bereits Satz 4.16 indem wir die kleineren Winkel gleich bezeichnet haben. Außerdem erhalten wir die Gleichung $\beta + \gamma = 180^\circ $.

Es gilt also α + 2β = 180 2α + γ = 180 β + γ = 180.

Die erste plus zweimal die zweite minus zweimal die dritte Gleichung ergibt \[ 5\alpha = 180^\circ \text {.} \] Demnach ist \[ \alpha = \frac {180^\circ }{5} = 36^\circ \text {,}\quad \beta = \frac {360^\circ }{5} = 72^\circ \quad \text {und} \quad \gamma = \frac {3}{5} \circ 180^\circ = 108^\circ \text {.} \] Also ist $\beta = 2 \alpha $ der Winkel, den wir brauchen, um ein regelmäßiges Fünfeck zu konstruieren!

Man kann also sagen, dass Euklid mit Satz 4.16 gezeigt hat, dass \[ \frac {1}{\varphi } = 2 \sin (18^\circ ) = 2 \cos (72^\circ ) \]

Tatsächlich lässt sich das Teilungsverhalten, das wir zwischen goldenen Dreiecken beobachtet haben, im Fünfeck erkennen, siehe Abbildung 20


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Abbildung 20: Goldene Dreiecke im regelmäßigen Fünfeck.