$\newcommand {\N }{\mathbb {N}}$$\newcommand {\Z }{\mathbb {Z}}$$\newcommand {\Q }{\mathbb {Q}}$$\newcommand {\R }{\mathbb {R}}$$\newcommand {\E }{\mathbb {E}}$$\newcommand {\id }{\operatorname {id}}$$\newcommand {\Isom }{\operatorname {Isom}}$$\newcommand {\defeq }{\mathrel {\mathop {:}}=}$$\newcommand {\eqdef }{=\mathrel {\mathop {:}}}$$\newcommand {\abs }[1]{\lvert #1 \rvert }$$\newcommand {\floor }[1]{\left \lfloor #1 \right \rfloor }$$\newcommand {\ceil }[1]{\left \lceil #1 \right \rceil }$$\newcommand {\seg }[1]{\overline {#1}}$$\newcommand {\strahl }[1]{\overrightarrow {#1}}$$\newcommand {\ang }{\sphericalangle }$$\newcommand {\gang }{\angle }$$\newcommand {\paritaet }{\operatorname {par}}$$\newcommand {\drehw }{\operatorname {ang}}$$\newcommand {\vektor }[1]{\underline {#1}}$$\renewcommand {\vec }{\operatorname {vec}}$$\newcommand {\protect }[1]{}$

4.6 Konstruktiv rechnen

In den vergangenen Abschnitten haben wir gesehen, wie man Zahlen konstruieren kann und dadurch effektiv durch Konstruktionen rechnen kann. Wir fassen diese Konstruktionen hier noch einmal zusammen. Dazu betrachten wir eine Gerade durch zwei Punkte $O$ und $I$. Wir stellen uns die Gerade als Zahlengerade vor und die Punkte $O$ und $I$ als $0$ und $1$.

Wir beginnen mit vorbereitenden Konstruktionen. Erstens können wir jede Länge als Länge ab $O$ auf $\strahl {OI}$ betrachten.

Problem 4.18 (Segment auf $\strahl {OI}$). Gegeben Punkte $P$ und $Q$, konstruiere $A \in \strahl {OI}$ mit $\abs {OA} = \abs {PQ}$.

Konstruktion. Der Punkt ist $A = O_{PQ}$. $\Diamond $

Zweitens können wir jedes Längenverhältnis als Längenverhältnis zu $\abs {OI}$ betrachten.

Problem 4.19 (Verhältnis auf $\abs {OI}$ beziehen). Gegeben Punkte $A,B \in \strahl {OI}$ mit $B \ne O$ konstruiere $C \in \strahl {OI}$ mit $\abs {OC}/\abs {OI} = \abs {OA}/\abs {OB}$.

Konstruktion. Das ist gerade Problem 4.1 mit $P_1 = A$, $Q_1 = B$, $Q_2 = I$. Der gesuchte Punkt ist $C = P_2$. $\Diamond $

Jetzt können wir die Grundrechenarten „konstruieren“.


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Abbildung 21: Konstruktion von $C$ mit $\abs {OC} = \abs {OA} + \abs {OB}$ (Addition).


Problem 4.20 (Addition). Gegeben Punkte $A,B \in \strahl {OI}$ konstruiere $C \in \strahl {OI}$ mit $\frac {\abs {OC}}{\abs {OI}} = \frac {\abs {OA}}{\abs {OI}} + \frac {\abs {OB}}{\abs {OI}}$.

Konstruktion. Die Gleichung fordert einfach, dass $\abs {OC} = \abs {OA} + \abs {OB}$. Wir können also $C$ als den Schnittpunkt von $A_{OB}$ mit $OI$ wählen, der nicht auf $\strahl {AO}$ liegt (oder gleich $A$ ist falls $B = O$). $\Diamond $


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Abbildung 22: Konstruktion von $C$ mit $\abs {OC} = \abs {OA} - \abs {OB}$ (Subtraktion). Wenn $B$ nicht in $\seg {OA}$ liegt (grün) ist die Konstruktion immer noch sinnvoll, allerdings muss der resultierende Punkt $C$ mit negativem Vorzeichen interpretiert werden, da er nicht auf $\protect \strahl {OI}$ liegt.


Problem 4.21 (Subtraktion). Gegeben Punkte $A,B \in \strahl {OI}$ mit $B \in \seg {OA}$ konstruiere $C \in \strahl {OI}$ mit $\frac {\abs {OC}}{\abs {OI}} = \frac {\abs {OA}}{\abs {OI}} - \frac {\abs {OB}}{\abs {OI}}$.

Die Bedingung $B \in \seg {OA}$ garantiert, dass $\abs {OA} - \abs {OB}$ nicht negativ ist. Die Konstruktion ist auch dann sinnvoll, wenn die Differenz negativ ist, allerdings liegt dann der Punkt $C$ nicht auf $\strahl {OI}$ und muss als negative Zahl interpretiert werden, nicht als Abstand von $O$.

Konstruktion. Die Gleichung fordert, dass $\abs {OC} = \abs {OA} - \abs {OB}$. Wir können also $C$ als den Schnittpunkt von $A_{OB}$ mit $OI$ wählen, der auf $\strahl {AO}$ liegt. $\Diamond $


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Abbildung 23: Konstruktion von $C$ mit $\frac {\abs {OC}}{\abs {OI}} = \frac {\abs {OA}}{\abs {OI}} \cdot \frac {\abs {OB}}{\abs {OI}}$ (Multiplikation). Gezeigt sind zwei mögliche Konstruktionen. In der oberen werden die Längen $\abs {OI}$ und $\abs {OA}$ mit Kreisen auf die Hilfsgerade übertragen. In der Unteren wird mittels Strahlensatz das Längenverhältnis $\abs {OA}/\abs {OI}$ auf die Hilfsgerade übertragen.


Problem 4.22 (Multiplikation). Gegeben Punkte $A,B \in \strahl {OI}$ konstruiere $C \in \strahl {OI}$ mit $\frac {\abs {OC}}{\abs {OI}} = \frac {\abs {OA}}{\abs {OI}} \cdot \frac {\abs {OB}}{\abs {OI}}$.

Konstruktion. Die Gleichung fordert, dass $\abs {OC} = \abs {OA}/\abs {OI} \cdot \abs {OB}$. Das ist gerade Problem 4.1 im Fall $P_1 = A$, $Q_1=I$, $Q_2=B$. Der gesuchte Punkt ist $C = P_2$. $\Diamond $


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Abbildung 24: Konstruktion von $C$ mit $\frac {\abs {OC}}{\abs {OI}} = \frac {\abs {OA}}{\abs {OI}} \cdot \frac {\abs {OI}}{\abs {OB}}$ (Division). Gezeigt sind zwei mögliche Konstruktionen. In der oberen werden die Längen $\abs {OI}$ und $\abs {OB}$ mit Kreisen auf die Hilfsgerade übertragen. In der Unteren wird mittels Strahlensatz das Längenverhältnis $\abs {OB}/\abs {OI}$ auf die Hilfsgerade übertragen.


Problem 4.23 (Division). Gegeben Punkte $A,B \in \strahl {OI}$ mit $B \ne O$ konstruiere $C$ mit $\frac {\abs {OC}}{\abs {OI}} = \frac {\abs {OA}}{\abs {OI}} \cdot \frac {\abs {OI}}{\abs {OB}}$.

Konstruktion. Die Gleichung fordert, dass $\abs {OC} = \abs {OA}/\abs {OB} \cdot \abs {OI}$. Das ist gerade Problem 4.1 im Fall $P_1 = A$, $Q_1=B$, $Q_2=I$. Der gesuchte Punkt ist $C = P_2$. $\Diamond $


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Abbildung 25: Konstruktion von $C$ mit $\frac {\abs {OB}}{\abs {OI}} = \sqrt {\frac {\abs {OA}}{\abs {OI}}}$ (Wurzel).


Schließlich gibt uns die Lösung von Übung 3 die Möglichkeit Wurzeln zu ziehen. Sie macht vom Satz des Thales (Folgerung 5.6) Gebrauch.

Problem 4.24 (Wurzeln). Gegeben Punkte $A \in \strahl {OI}$, konstruiere $B \in \strahl {OI}$ mit $\frac {\abs {OB}}{\abs {OI}} = \sqrt {\frac {\abs {OA}}{\abs {OI}}}$.

Konstruktion. Sei $M$ der Mittelpunkt von $\seg {OA}$. Sei $k = M_A$. Sei $g$ das die Senkrechte zu $OI$ durch $I$. Sei $B'$ der Schnittpunkt von $k$ und $g$. Der Schnittpunkt $B$ von $O_{B'}$ und $\strahl {OI}$ ist der gesuchte Punkt. $\Diamond $

Beweis. Da $M$ der Mittelpunkt von $\seg {OA}$ ist, geht $k$ durch $O$. Das Dreieck $OB'A$ ist also nach dem Satz des Thales rechtwinklig. Aus dem Kathetensatz folgt $\abs {OB'}^2 = \abs {OA} \cdot \abs {OI}$. Teilen durch $\abs {OI}^2$ ergibt $\left (\abs {OB}/\abs {OI}\right )^2 = \abs {OA}/\abs {OI}$. □

Zusammenfassend habe wir die erste Aussage des folgenden Satzes gezeigt. Der Beweis des zweiten Teils fällt in ein anderes Themengebiet der Mathematik.

Satz 4.25. Jede Zahl, die man (aus $0$ und $1$) durch die Grundrechenarten und Wurzelziehen erhalten kann lässt sich mit Zirkel und Lineal konstruieren.

Umgekehrt lässt sich jede Zahl, die man mit Zirkel und Lineal konstruieren kann durch die Grundrechenarten und Wurzelziehen erhalten.

Da die Konstruktion eines regelmäßigen $n$-Ecks im Wesentlichen darin besteht, einen Winkel von $360^\circ /n$ zu konstruieren, was im Wesentlichen das gleiche ist, wie die Zahl $\sin (180^\circ /n)$ zu konstruieren erhalten wir:

Folgerung 4.26. Ein regelmäßiges $n$-Eck kann mit Zirkel und Lineal konstruiert werden genau dann, wenn man $\sin (180^\circ /n)$ durch die Grundrechenarten und Wurzelziehen erhalten kann.

Übung 6. Sei 𝜀 = 17 + 17 𝜀̄ = 17 17 α = 34 + 617 + 22 (17 1)𝜀 ̄ 82 𝜀.

Dann ist $\sin (\frac {180^\circ }{17}) = \frac {1}{8}\sqrt {2}\sqrt {\bar {\varepsilon }^2 - \sqrt {2}(\alpha + \bar {\varepsilon })}$. Konstruieren Sie ein regelmäßiges $17$-Eck.

Da man Winkel halbieren und Verdoppeln kann, kann man ein regelmäßiges $n$-Eck konstruieren, genau dann, wenn man ein regelmäßiges $2n$-Eck konstruieren kann, d.h. Potenzen von $2$ in $n$ bedeuten keine Schwierigkeit. Gauß hat allgemeiner gezeigt:

Satz 4.27 (Gauß). Ein regelmäßiges $n$-Eck ist konstruierbar genau dann, wenn $n = 2^k \cdot p_1 \cdots p_\ell $ ist, wobei die $p_i$ Fermat-Primzahlen sind.

Eine Fermat-Primzahl ist eine Primzahl der Form $2^{2^n}+1$. Die einzigen bekannten Fermat-Primzahlen sind $3,5,17,257,65537$. Die einzigen bekannten, ungeraden $n$ für die ein regelmäßiges $n$-Eck konstruierbar ist sind also die Zahlen \[ 3^{\varepsilon _3} \cdot 5^{\epsilon _5} \cdot 17 ^{\epsilon _{17}} \cdot 257^{\epsilon _{257}} \cdot 65537^{\epsilon _{65537}} \] wo jedes $\varepsilon _i \in \{0,1\}$ aber nicht alle $0$ sind. Dies sind die Zahlen $3$, $5$, $15$, $17$, $51$, $85$, $255$, $257$, $771$, $1285$, $3855$, $4369$, $13107$, $21845$, $65535$, $65537$, $196611$, $327685$, $983055$, $1114129$, $3342387$, $5570645$, $16711935$, $16843009$, $50529027$, $84215045$, $252645135$, $286331153$, $858993459$, $1431655765$, $4294967295$. Es ist unbekannt, ob es unendlich viele Fermat-Primzahlen gibt, also ob es unendlich viele konstruierbare $n$-Ecke mit $n$ ungerade gibt.